Analog 02
schwer eigentlich nicht sein. Sein Gerät verfügte über einen psychodelischen Konverter, selten in Gebrauch, aber vorhanden. Es gab verschiedene Programme, die unterschiedliche sichtbare Muster ausstrahlten, die man in Töne umwandeln konnte, indem man einfach einen Knopf an der Seite des Gerätes drückte. Er beugte sich hinüber und drückte den psychodelischen Knopf.
„Hallo, Carl“, sagte er.
Die Flamme füllte einen Augenblick den ganzen Schirm aus. „Quent! Was für eine Erleichterung. Ich wußte nicht, ob das funktio nieren würde. Aber sie ließen mich eine Flamme auf deinen Bildschirm projizieren. Es war meine einzige Chance.“
„Carl“, sagte der Anwalt bestimmt. „Wo genau bist du?“
„In der Hölle. Ich dachte, du wüßtest das.“
„Und ich soll dich wieder herausholen?“ Im Geiste überflog er bereits alle Artikel des Strafgesetzbuches. Kapitel 9: Nach der Verurteilung, Gründe für eine Begnadigung. Er bezweifelte aber, daß Kapitel 9 hier gültig war. Aber was war dann gültig? Eines der uralten Gesetze? Herr der Unterwelt, ich präsentiere Euch hier eine Schrift des habeas korpus .
„Raus? Mich rausholen?“ entgegnete die ferne Stimme. „Nein, Quent, du verstehst nicht. Ich will hierbleiben!“
Thomas dachte zuerst, der Lautsprecher seines Fernsehgerätes habe den Geist aufgegeben. Er wollte gerade ein paar Einstellungen vornehmen, als die Stimme sich wieder meldete.
„Quent, ich glaube schon, daß es unsinnig klingt. Du fragst dich augenblicklich wahrscheinlich: Warum sollte jemand in der Hölle bleiben wollen? Für mich lautet die Antwort: Weil es hier alles gibt, absolut alles. Und zwar nur deshalb, weil ich Flammen lesen kann. Hier unten sind jede Menge Flammen, Quent. Es ist wahr , was die Leute über die Flammen sagen. Und jede Flamme singt . Und ich kann die Musik lesen. Hier unten existieren Lieder, die ihr euch da oben im Traum nicht vorstellen könnt. Hier ist alles: Ich habe die Gesänge gehört, mit denen die Sirenen Odysseus betörten, und auch die, die die Loreley den Schiffen auf dem Rhein sang. Hier unten sind alle verlorenen Fragmente. Wagners erste beiden Opern sind hier, die er als Jugendlicher geschrieben hat. Eine verbrannte, die andere hat er vorsätzlich vernichtet. Sie sind hier. Du erinnerst dich vielleicht an die wundersame Passage aus Thomas Wolfes Of Time and the River : Spiel mir eine Melodie auf dem unzerbrochenen Spinett , Und laß die Glocken läuten, laß die Glocken läuten.
Diese Melodie ist hier. Ich habe sie gehört. Und die Glocken. Und erinnerst du dich an den Mord und Selbstmord von Marie Vetsera und Rudolph von Habsburg in Mayerling?“
„Vage“, antwortete Quentin Thomas.
„Der Diener spielte am selben Abend in der Jagdhütte die Konzertina für sie. Dort steht jetzt eine Kapelle. Nonnen beten rund um die Uhr für sie. Der Musiker improvisierte. Und die Musik ist hier.“
„Faszinierend“, murmelte Quentin Thomas.
„Hier unten ist alles archiviert, Quent, geordnet und flammenregistriert. Es ist das ultimate Archiv. Wie in Swinburnes The Garden of Prosperine. Die Unvollendeten, die Vergessenen und Verlorenen – hier sind sie alle. Und sie brennen ewig.“
Die Flamme auf dem Bildschirm schien ein wenig in sich zusam menzusinken, als der Erfinder sich entspannte. „Ich habe das fehlende Stück von Schuberts Unvollendeter Symphonie gehört. Er machte einen groben Entwurf, bevor er das Werk 1822 beiseite legte. Ah, großartig! Und rate mal, was noch alles hier ist?“
„Was?“
„Ich habe Bachs Die Kunst der Fuge vollständig gehört und Mozarts Requiem und Brückners Neunte, Mahlers Zehnte. Es ist endlos!
Schumann hatte seltsame Melodien in seinem Kopf gehört, die ihn zum Selbstmord trieben – und ich habe sie ebenfalls gehört.
Ich habe die Melodien gehört, die David auf seiner Harfe gespielt hat, um König Sauls Melancholie zu vertreiben. Ich habe Sullivans Lost Chord gehört und den Psalm, den sie beim Abendmahl gesungen haben.
Aber das ist alles erst der Anschnitt des Kuchens. Das Ding, worauf ich hinaus will, ist das Absolute, Ultimate. Laß mich dir davon erzählen. Du würdest es als einen Ozean bezeichnen.“
„Erzähl mir von diesem Ozean“, bat der Anwalt.
„Das werde ich. Aber zuerst mußt du verschiedene Unausweichlichkeiten dieses Ortes erfahren. Hier gibt es keine Sonne, die scheint oder deren Aufgang Beginn und Ende des Tages markiert. Das Licht hier unten kommt von dem Meer. Und die Tage …
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