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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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ich, los. Wir gehen zum Bierstand, stellen uns in die kurze Morgenschlange und lassen uns noch eine Plastiktüte füllen. Wir setzen uns auf die Bank vorm Bahnhof und trinken in Ruhe. Langsam erwärmt die Sonne den Bahnhofsvorplatz, es wird heiß, das Bier steigt in den Kopf, wir haben noch nicht so viel Übung, heiß hier, sagt Dschochar, gehen wir lieber ins Café. Ins Café? frage ich, ich muß Schuhe kaufen, nun bleib mal locker, unterbricht mich Dschochar, schaffst du noch. Und wir gehen in das Café am Stadion, das ist eigentlich kein Café, sondern eine Kantine, sie nennen das in der letzten Zeit Café, die fahren hier voll die Privatisierungsschiene, wir gehen hinein und nehmen jeder einen Liter trübes Flaschenbier, mit einer dicken Schicht Bodensatz. Schaffst du deinen Bus noch? frage ich, schaff ich, sagt Dschochar, schaff ich noch. Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat.
    Nach einer halben Stunde kippte Dschochar unseren Tisch um, damals fehlte uns noch die Übung im Trinken, die Flaschen rollten auf den Boden und gingen kaputt, vom Flur kam so ein frischgebackener Privatbesitzer hereingelaufen und wollte sich Dschochar vorknöpfen, der näher stand, aber Dschochar wich aus und warf ihn um, einfach auf die zerbrochenen Flaschen, der Privatisierungsaktivist brüllte los, wir hauten ab, Sonne erfüllte die Straßen, der Herbst war noch weit weg, ich schlug mich nach links, Dschochar nach rechts. Ich lief über die Straße, sprang in den Park, rannte bis zum Videoklub, zahlte einen Rubel und setzte mich auf einen freien Platz. Es lief gerade ein Film mit Bruce Lee.
    Mein Alter hatte eine merkwürdige Thermosflasche – groß und mit lauter Glitzerzeug beklebt, der Verschluß hatte eine Gummidichtung, solche Thermosflaschen waren eigentlich für Tee oder Suppe. Aber mein Alter hatte Bier drin, er kaufte immer welches, wenn er eine Tour machte, und wenn er sich vergewissert hatte, daß keine Verkehrspolizei in der Nähe war, hielt er an und trank, was ihm, wie ich verstand, offenkundiges Vergnügen bereitete. Am meisten gefielen mir am Leben der Erwachsenen ihre materiellen Gegenstände, über Verhältnisse oder Beziehungen und wie diese Beziehungen und Verhältnisse funktionierten, konnte ich noch nichts sagen, die Ursache-Wirkungs-Komponente der Wirklichkeit konnte ich mir noch nicht so richtig vorstellen, ich nahm sie überwiegend auf der gegenständlichen Ebene wahr, auf der Ebene unerreichbarer und unausgesprochener Dinge und Gegenstände, die ihr Leben ausfüllten. Da ich die ganze Zeit mit meinem Alten unterwegs war, hatte ich in meiner Kindheit hauptsächlich erwachsene Männer um mich, Frauen gab es fast keine, mit Frauen war es langweilig, mit meinen acht, neun Jahren ignorierte ich sie. Ich kam in richtige Männerrunden, und meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich völlig auf Klappmesser, auf Springmesser, die jemand aus dem Knast geschleust hatte und die am Schaft mit aufgelöteten Glasrosen verziert waren, auf Lederportemonnaies voller Geldscheine – in meinen Achtzigern hat Geld überhaupt keine Rolle gespielt, Geld hatten alle irgendwie ausreichend –, ich konzentrierte mich auf schwere Metallmünzen, die die Hosentaschen nach unten zogen, auf Füller und Zigarettenetuis, schließlich auf Taschenlampen, es ist merkwürdig, aber jetzt, wo ich ein paar Jahre jünger bin als mein Vater damals, denke ich, okay, ich bin also erwachsen, ich kann mir Bier kaufen und komme an all die Dinge ran, von denen ich als Kind geträumt habe, und nun entpuppt sich alles als Illusion, die Dinge, die mir mit sieben als absolut lebensnotwendig erschienen, sind mir mit dreißig total egal, wirklich – ich habe auch jetzt kein Klappmesser, ich hatte mal ein Schweizermesser, aber das habe ich meinem Neffen geschenkt, ganz zu schweigen vom Springmesser, bei meinem Verhältnis zur Polizei, ich habe kein Portemonnaie, ich hatte mal eins, aber das habe ich dem Schriftsteller Kokotjucha geschenkt, die Münzen gebe ich meinem Sohn, mit Füller schreibe ich nicht, sonst könnte ich meine Handschrift nicht mehr entziffern, Zigarettenetui, wo denkt ihr hin, ich habe nicht mal eine Taschenlampe, nicht mal eine lausige Taschenlampe! Das Leben mit seinen Verlockungen erwies sich als Fiktion, die gegenständliche Welt als trügerisch und ihre Vorzüge als relativ. Mit wachsender Begeisterung erinnere ich mich heute weniger an die Sachen, die mich umgaben, als an die Menschen, denen sie gehörten, aus meiner jetzigen

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