Anarchy in the UKR
Perspektive finde ich sie viel wertvoller und ihre Taten viel abgedrehter. Bier zum Beispiel, ich erinnere mich, wie die Männer aus einer Brauerei, sie hatten irgendwelche Beziehungen, zwei volle Säcke Bier abholten, wirklich Säcke, keine Eimer oder Fässer, sondern Säcke, nicht diese widerlichen Winzdinger, in die später Dschochar und mir das Bier eingefüllt wurde, unsere Eltern bekamen noch große Zwanzig-Liter-Säcke, zwanzig Liter ungefiltertes Bier! Noch jetzt stockt mir der Atem, der plastische Alltag in den frühen Achtzigern, die überquellende Vitalität der dreißig- bis vierzigjährigen Männer, die dann, nur ein paar Jahre später, mit dem Sowjetbürger zugrunde gehen würden, verwundert und verzaubert mich immer noch; sie trugen Tierleiber auf ihren Rücken, besorgten kistenweise Wodka und Portwein, und wenn ein Auto aus dem Schlamm gezogen werden mußte, machten sie das mit den bloßen Händen, ihre Hände hatten Kraft, ihr Leben hatte eine Folgerichtigkeit, ihre eiserne Stärke strahlte Rechtschaffenheit aus, sie konnten zeigen, wie man das Leben liebt, zeigen, wie sie das Leben liebten, obwohl sie sicher nicht hätten sagen können, wofür.
Ich weiß natürlich um die ganze Naivität solcher Verallgemeinerungen, aber es gefällt mir, meine Vergangenheit genau so zu betrachten – mit vor Begeisterung weit aufgerissenen Augen, Augen, die feucht sind von einem plötzlichen grellen Sonnenstrahl, der die Männer in ihrem siegreichen Kampf ums Dasein blendet, dann wird alles anders, und sie werden natürlich ganz schnell alt, es gibt keine Biersäcke mehr, kein Blut an den Händen, keine Sonne auf den Handflächen, alles wird anders, schlechter, das kommt vor – dort, wo du es angenehm und ruhig hattest, wird der nächste einfach von einem zufälligen Balken zerquetscht, der irgendwann herunterkommen mußte, bloß daß keiner wußte, wann genau.
Vor ein paar Jahren bin ich die Straße entlanggegangen, war gerade nach Hause gekommen, da raste so ein verrückter Typ auf einem Moped an mir vorbei, plötzlich hielt er an, drehte um und kam zu mir. Das war Dschochar, keine Frage. Er hatte einen Husarenbart und war betrunken. Am Lenkrad hing ein Beutel, aus dem ein Flaschenhals ragte. Du? fragte er. Mmh, ich, sagte ich. Nach Hause? Ja. Wie geht's? fragte er. Gut, antwortete ich, und dir? Ich hab jetzt einen Bauernhof, sagte er. Einen Hof? Ja, einen Hof. Und wie ist es? Wie soll es sein, sagte er und überlegte, schlecht – der Schwanz steht steif (so sagte er »steht steif«), aber die Gesundheit ist hin. Ich dachte, für einen Bauern ist das wahrscheinlich ziemlich übel. Erinnerst du dich noch, wie wir den Privatisierungsaktivisten umgelegt haben? fragte ich. Nein, antwortete er, kann mich nicht erinnern. Willst du? er holte die Flasche raus. Nein, sagte ich, ich will nicht. Er trank selbst, würgte, gab aber nicht auf. Komm doch mal vorbei, sagte er, nachdem er sich den Wodka reingewürgt hatte. Komm lieber du vorbei, sagte ich. Schenk mir deine Mütze, sagte er. Fick dich ins Knie, sagte ich. So gingen wir wieder als Freunde auseinander.
1989 Wehrlager.
Hauptmann Kobylko. Das war Hauptmann Kobylko. Groß und dürr, seine Hauptmannsuniform schlackerte an einigen Stellen, die viel zu große Mütze auf seinem Kopf verrutschte dauernd, in Filmen über den Bürgerkrieg trugen die Weißen solche Mützen. Der Hauptmann hatte zu den Liquidatoren von Tschernobyl gehört, dort hatte es ihn offenbar ziemlich erwischt, er trug eine dicke Brille mit dunklen Gläsern, und für einen Hauptmann sah er einfach fürchterlich aus. Er haßte uns, wir riefen bei ihm irgendwelche unangenehmen Assoziationen hervor, das war nicht zu übersehen. Er brachte uns bei, wie wir die Gasmasken anzulegen hatten, und verlangte, daß wir das Morsealphabet kannten. Bei mir persönlich hat das mit dem Morsealphabet trotzdem nicht funktioniert. Mit den Gasmasken auch nicht. Am meisten nervte, daß wir in Uniform zum Unterricht kommen mußten, wir sahen total bekloppt aus, in normalen Sachen sahen wir auch bekloppt aus, wir waren fünfzehn, von Adrenalinstößen gepeinigt, bei den Mädchen in unserer Klasse fingen die Brüste an zu wachsen, wir versuchten, auf Lunge zu rauchen, und mit Uniformen hatten wir damals absolut nichts am Hut. Einmal hatte ich zu Kobylkos Stunde Omas Orden des Großen Vaterländischen Krieges dritter Klasse angelegt. Der Hauptmann war niedergeschmettert. Offensichtlich war ihm das Glück nicht hold
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