Anarchy in the UKR
Kommune, sondern eine ehemalige Tabakfabrik, in der sich seinerzeit freie Künstler niedergelassen hatten, und die werden jetzt auf die Straße gesetzt, und nun wollen sie die letzte Ölung vornehmen, heute steigt das große Besäufnis, und wer überlebt, fliegt dann morgen auf die Straße. Er redet, und ich denke, daß es nicht gut ist, wenn der Sohn das alles sieht, es ist nicht gut, wenn Kinder in diesem Alter sehen, wie freie Künstler auf die Straße fliegen, meiner Meinung nach ist das keine sehr gute Erfahrung. Kinder sollten lieber sehen, wie freie Künstler Fabriken und Werke besetzen, wie Massen von freien Künstlern, zu denen sich auch verrückte Stadtbewohner, diverse Arbeitslose, Straßenräuber, Drogenhändler, Nutten – Nutten auf jeden Fall, darauf bestehe ich –, Skateboard-Fahrer und Alkoholiker zählen, wie also diese Massen Fabriken und Supermärkte besetzen, Büros und Antiquitätengeschäfte stürmen, es sich auf Ledersofas in Bankgebäuden bequem machen, in Galerien mit moderner Kunst ein Lagerfeuer entzünden und mehrtägige frohe Orgien veranstalten, die im kollektiven Delirium enden. Mit einem Wort, ein Kind sollte gesunde und starke Emotionen sehen, positive Erlebnisse, es ist nicht gut, die Kinderpsyche mit Bildern der sozialen und lebensweltlichen Niederlage von freien Künstlern zu traumatisieren, ein Kind sollte unter keinen Umständen von klein auf die Befürchtung haben, daß du in diesem Leben, in diesem Land jeden Augenblick auf die Straße geworfen werden kannst; und wenn du dich auf den Kopf stellst – keiner will mehr was von dir wissen mit deinen Bildern und deiner unabhängigen Lebensposition. Kinder müssen unter normalen Bedingungen aufwachsen, in einer normalen Gesellschaft, in der kein Bürohengst und kein Schnüffler die Nase in deine Papiere stecken, in der kein Staat, wie abgefuckt er auch sein mag, dir in deiner Tabakfabrik blöd kommen kann, was auch immer du da treibst, selbst wenn du Leichen zerlegst, sogar wenn es deine eigene Leiche ist – zerleg sie, wohl bekomms, Kinder sollten so früh wie möglich verstehen, daß potentiell jede Fabrik dafür da ist, besetzt zu werden und auf ihrem Gelände Sabbat zu feiern, wozu wurde sie sonst errichtet? Ein Kind, das von klein auf die ganze Überflüssigkeit und Sinnlosigkeit und Schädlichkeit des Systems erkennt, in das es durch den Willen des Schicksals geraten ist – so ein Kind hat keine schlechten Chancen, sich irgendwann irgendeiner Gruppe anzuschließen, und dann braucht man sich keine Sorgen mehr zu machen. Sorgen machen muß man sich eher um die, die sich nicht aus der Abhängigkeit der nächsten Bankfiliale befreien können, um die muß man sich wirklich Sorgen machen, denn aus ihren Reihen kommen die Serienmörder und die öffentlichen Politiker, freie Künstler gehen daraus nicht hervor.
Damit haben wir uns getrennt – sie flogen mit ihrem Sohn in die Fabrik, ich flog in mein Zimmer im zweiten Stock und hatte seine selbstgebrannten CDs und ein Kordjackett mit einem Rückenaufdruck dabei. An das Jackett war ich auf ziemlich interessante Weise gekommen, ich hatte es in einem Military-Shop gesehen, das Extra bestand darin, daß man einen Schriftzug aufdrucken lassen konnte, na, fragte mich der Verkäufer, ein junger Afroamerikaner, wie es so schön heißt, welches Bild willst du haben? Che? Nein, sagte ich, Che ist schon lange tot. Irgendwann sind wir alle tot, sagte er. Oh, da fällt mir ein, hier ist ein cooler Spruch: »Live fast, die young«. Willst du? Früh sterben? fragte ich, nein. Aber den Spruch kannst du draufmachen, auf jeden Fall besser als Che.
Okay, sagte er, macht noch mal zehn Eier.
Warschau, 16. 05. 2005.
Osteuropäische Literatur
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