0431 - Kathedrale der Angst
»Nein, das ist es nicht«, flüsterte Pierre. »Es ist etwas anderes.«
»Und was, bitte?«
»Wir versündigen uns, Gustave. Glaub es mir. Wir dürfen nicht mehr weiter, sonst rennen wir ins Unglück…«
»Und die Forschung?«
»Soll mich in Ruhe lassen. Ich weiß, daß dieser Ort seinen Namen nicht zu Unrecht erhalten hat.«
Gustave Rodin lachte leise. »Ja, das hat er nicht. Auch ich spüre das Besondere. Das ist der Ort, nach dem wir so lange gesucht haben. Die Kathedrale der Hoffnung!«
»Nicht der Hoffnung!« widersprach Virni entschieden. »Es ist die Kathedrale der Angst.«
»Für dich!«
»Ja, für mich, und ich möchte dich warnen, daß sie nicht auch für dich dazu wird!«
»Ich gehe weiter!« Gustave Rodin ließ sich von seinem Entschluß nicht abbringen, auch dann nicht, als ihm Pierre Virni die Hand auf die Schulter legte, um ihn zurückzuhalten. Er schüttelte die Finger ab. »Laß das, werde nicht kindisch.«
»Gustave, bitte! Wir wissen mehr…«
»Wir glauben mehr zu wissen, mon ami. Dabei sind wir erst am Beginn. Kannst du dir vorstellen, welche Geheimnisse sich um die Templer ranken? Nein, das kann sich niemand vorstellen, denn wir stehen erst am Anfang einer sensationellen Entdeckung.«
»Wir werden sterben, wenn wir weitergehen. Schau doch nach vorn! Siehst du die Warnungen nicht?«
Gustave lachte. »Welche Warnungen?«
Pierre Virni zeigte an ihm vorbei. »Ist das normal, eine Kirche zwischen all den Felsen?«
»Nein, normal ist es nicht, aber deshalb braucht es nicht lebensgefährlich zu sein, finde ich.«
»Geh mit mir zurück!« sagte Pierre.
Gustave Rodin hörte nicht auf ihn. Er schüttelte nur unwillig den Kopf, für ihn war das Thema erledigt. Er ließ sich von seinem Kommilitonen nicht ins Bockshorn jagen. Die Papiere waren von ihnen entdeckt worden. Es gab Hinweise auf die Kathedrale und auch darauf, daß hier einmal die Templer gelebt hatten…
Gustave trat nur einen kleinen Schritt nach vorn. Unter seinen Füßen befand sich schwarzer Stein, eine Lavamasse, die irgendwann einmal ausgespien worden sein mußte und erkaltet war.
Diese Masse bedeckte den gesamten Boden der Schlucht, die praktisch in die Kathedrale mündete. Ihr Eingang glich einem gewaltigen offenen Felsentor.
Die Templer sollten im Mittelalter die Kathedrale gebaut haben, die ihnen gleichzeitig als Zufluchtsstätte oder Kloster diente. Das jedoch war nicht hundertprozentig gesichert, die gefundenen Unterlagen gaben einfach zu wenig her.
»Ich verspüre Angst, wenn ich durch das Tor schaue«, sagte Pierre Virni mit leiser Stimme.
»Und weshalb?« fragte sein Partner.
»Es sieht so endlos aus. Ohne Grenzen. Zudem habe ich das Gefühl, von einem kalten Hauch gestreift zu werden. Ich bin mir natürlich nicht sicher, könnte mir aber vorstellen, daß hier der Tod zu Hause ist. Wir sind Ungebetene, man darf die Kathedrale nicht betreten.«
»Wo steht das?«
»Hast du die Warnung nicht gelesen?«
»Nein. Welche Warnung und wo?«
»Am Portal steht etwas in lateinischer Schrift. Geh hin, Gustave, und überzeuge dich selbst.«
Und Rodin hob die Schultern. Er gab sich betont locker, obwohl auch er ein unangenehmes Gefühl nicht unterdrücken konnte. Um seinem Freund den Gefallen zu tun, trat er dicht an die Säule heran, um die Schrift lesen zu können.
»Lies die Worte ruhig laut vor«, sagte Pierre Virni. »Tu uns noch den Gefallen.«
»Terribilis est locus iste!«
»Und du weißt, was das heißt?«
Gustave nickte ärgerlich. »Klar. Dieser Ort ist schrecklich, heißt das übersetzt.«
»Sehr richtig, mein Lieber. Wer das in den Stein gehauen hat, tat es nicht umsonst. Der wußte schon vor langen Jahren, was mit der Kathedrale los war. Deshalb sollten wir hier so schnell wie möglich verschwinden und alles ruhen lassen.«
Rodin drehte sich um. Er schüttelte den Kopf und verengte seine Augen.
»Sag mal, du stammst aus dieser Gegend, wir haben uns in Paris getroffen und geforscht. Du hast mich überhaupt erst auf diesen Trichter gebracht. Und jetzt machst du den großen Kneifer? Ich begreife das nicht. Tut mir leid, mein Lieber.«
»Es ist aber besser für uns.«
»Das verstehe ich nicht. Hinter dem Tor führt der Weg weiter. Es ist eine Schlucht und gleichzeitig eine Kathedrale. Zwei Dinge in einem. Ich finde es wunderbar. Gut, die Warnung existiert, aber derjenige, der sie in den Stein gemeißelt hat, hätte auch mitteilen können, wovor er warnt.«
Gustave verzog das Gesicht. »Das ist zu
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