Anarchy in the UKR
sind, zum Beispiel, diese eigenartige Stille leerer Zimmer, wenn du an die Wand trittst und hörst, das Zimmer jenseits der Wand ist leer, und alle anderen sind auch leer, nur eine Tussi im weißen Kittel sitzt an der Rezeption, das Zimmermädchen schleicht durch die Korridore und horcht auf unseren Atem, den Atem von drei bekifften Fremden, die vor drei Tagen hier aufgetaucht sind, die Ruhe der leeren, sonnendurchfluteten Korridore gestört haben, sich als Journalisten ausgeben, den dritten Tag im Hotel hocken, kiffen und mit Wodka oder Selbstgebranntem nachspülen. Ein warmes, ruhiges Städtchen mit verschlafenen Straßen, das ist sie, die Hauptstadt des Anarchokommunismus und ungewöhnlicher sozialpolitischer Experimente; nachdem wir angekommen waren, mieteten wir uns sofort in diesem Hotel ein, im Erdgeschoß war ein Friseur, es roch nach Kölnischwasser, noch nicht mal der übelste Geruch, bei weitem nicht. Die Zimmer waren so billig, daß wir beschlossen, länger zu bleiben. Vielleicht war das der schlimmste Fehler. Wir gingen aufs Zimmer, warfen die Sachen hin, zählten unsere Kohle und gingen in die Stadt.
Ich muß zugeben, Touristen konnte ich noch nie leiden, Touristen sind laut und hektisch, haben etwas Gekünsteltes und Ephemeres, sie tauchen auf in ihren Shorts und Panamas, die Kodak schußbereit, und gleich kommst du dir überflüssig vor, und sie merken das, sie sind sehr empfindlich, diese Touristen, sie tun so, als blickten sie in die Sucher ihrer Kameras, an dir vorbei, auf die historischen Motive, die sich hinter deinem Rücken auftun, aber in Wirklichkeit flüstern sie sich zu, was ist denn das für ein Affe, warum trägt er keine Shorts, wo hat er seinen Panama, verdammt, was will der hier? Und vor allem muß Geschichte für Touristen immer durch äußere Zeichen dokumentiert sein, an allen Häusern sollen Gedenktafeln hängen, hinter jeder Ecke soll sich das Panorama auftun, das in ihren unsäglichen Reiseführern beschrieben ist, sie achten niemals auf die einfachen und unscheinbaren Dinge, Häuserwände zum Beispiel, vernarbt vom Kugeleinschlag, alte, stämmige Ahornbäume im Park, an denen die Feinde des werktätigen Volkes aufgehängt worden sein könnten, sie verstehen die Stille der Straßen nicht, die seinerzeit von durchziehenden Armeen widerhallten, traumatisiert von den Kanonaden und Salutschüssen der Sieger, sie knipsen Fassaden, ohne zu begreifen, daß es viel interessanter ist, die Leere zu fotografieren, besonders wenn in dieser Leere erbitterte Kämpfe mit wechselndem Erfolg geführt wurden. Eigentlich kommen in solche Städte keine Touristen, und wenn doch, ist ihr Programm kurz und trocken – vor der Gedenktafel für den Anarchistenführer Nestor Machno am Haus des ehemaligen Stabes der Aufstandsarmee ein Erinnerungsfoto machen, Machnos Wohnhaus suchen (im Reiseführer steht zwar, daß es schon 1918 von den Österreichern niedergebrannt wurde, aber ein Versuch ist es trotzdem wert) und schließlich ins Museum gehen, den Maschinengewehrwagen aus Pappmaché begutachten und sich dabei ideologisch verbogenen Schwachsinn über die Errichtung der Sowjetmacht und die Erfolge in der Landwirtschaft während der Unabhängigkeit anhören. Bei unserer Suche nach äußeren Zeichen fanden wir außer der Gedenktafel und dem Maschinengewehrwagen noch die Kneipe »Nestor«. Danach gingen wir zurück ins Hotel und kifften weiter.
Die historische Literatur zur Machno-Republik behandelt Guljaj-Pole dermaßen ausführlich, als ließen sich in den Ortsbeschreibungen, den Wirtschaftsdaten und der Sozialanalyse wirklich Hinweise und Vorzeichen auf die spätere Entwicklung der Stadt finden. Unter anderen, besseren Bedingungen hätte aus Guljaj-Pole für alle am Anarchismus als solchem und seinen praktischen Ausformungen im besonderen Interessierten ein Touristen-Mekka werden müssen, das an Jahrestagen und Jubiläen regelmäßig von Massen der oben erwähnten Typen mit Panama und Kamera überrannt wird; so detailliert beschreiben die Historiker die hiesigen Schulen und Fabriken, so exakt halten sie die Zahl der Arbeiter und Mitglieder der jüdischen Gemeinde fest, daß du an einem bestimmten Punkt selbst mitgerissen wirst vom Schicksal dieses kleinen Ortes im August, du schlenderst vom Busbahnhof zur Bibliothek, vom »Nestor« zur halbzerfallenen alten Mühle, erkennst manche von den Archivaufnahmen wieder und andere überhaupt nicht. Wenn du seit, sagen wir mal, drei Tagen in so einer kleinen Stadt
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