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Anarchy in the UKR

Anarchy in the UKR

Titel: Anarchy in the UKR Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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das nicht gepackt, denke ich heute? Vielleicht habe ich nicht wirklich an das geglaubt, woran sie glaubten, ich hab mich einfach nicht getraut, meine Hände unter den brennenden Strahl der giftigen Säure zu halten, die sie einatmeten, sich gierig und ungeduldig reinzogen, die sie würgte und die sie auf die feuchten Charkiwer Fußwege der Polizei vor die Füße kotzten. Es tut nichts zur Sache, daß ich an langen, sonnigen Morgen Anfang der Neunziger denselben Wein trank und auch dieselben alten Turnlatschen trug, meine waren sogar noch älter. Meine alten Turnschuhe beweisen höchstens, daß ich ein Idiot war und mir einfach keine neuen kaufen konnte. Einen Luftzug von der anderen Seite des Lebens gab es hier überhaupt nicht.
    Ich konnte nie richtig an das glauben, was sich um mich herum abspielte, es kam mir immer so vor, als sei das noch nicht der Anfang, nicht das wirkliche Leben, da erzählt mir nur einer, wie es weiter geht, wie alles mal aussehen wird, wenn sie die Dekorationen abnehmen und diese ganze Apparatur in Gang setzen. Im Unterschied zu ihnen, denen, die sich am Spiel beteiligt, das Blut und das Vergehen der Zeit gespürt haben, konnte ich mich nicht total, nicht hundert Pro auf die Relativität dieser Struktur einlassen, ich glaubte nicht richtig an ihre Verrücktheit, an ihre Unerlöstheit, mich hat die Leichtigkeit gestört, mit der sie sich und anderen das Leben verpfuscht, sich ihres eigenen Lebens beraubt haben. Mir kam es immer so vor, als sei das eine ziemlich intime Angelegenheit – sich des Lebens zu berauben, sie waren jedenfalls grundlegend anderer Ansicht, wollten alle ringsum – und in erster Linie natürlich sich selbst – überzeugen, daß man ihr Kreuz, ihre Abnormität, ihren Rock’n’Roll leicht und freudig tragen kann und daß das größte Problem so einer Prozession die Frage ist, wo man Alkohol herkriegt. Ich blieb bei meiner Meinung. Von ihnen blieb fast keiner am Leben.
    Es ist übrigens auch keine besonders schöne Situation, wenn du plötzlich und unheimlich schmerzhaft von deinen Helden, deinen Aposteln enttäuscht wirst, du hast ihnen zwar nicht richtig geglaubt, aber der Wille war zumindest da, und auf einmal ist die Zeit vergangen, genau, für dich ist die Zeit vergangen, für sie ist sie einfach zu Ende, und du empfindest für sie nichts als Haß, unverhohlenen, hautnahen Haß, jenseits des Tores heulen ihre Seelen und schlagen gegeneinander. In Wirklichkeit lag er, der Haß, schon damals in der Luft – vor fünfzehn Jahren, zu Beginn der Neunziger, auf allen diesen Konzerten mit der ätzenden Technik, in diesen Buden, in diesen Ecken und Löchern, in denen die starke Charkiwer Gegenkultur, die Charkiwer Rockschule hauste und aus denen sie größtenteils nicht herausfand. Wenn du als Siebzehnjähriger mit Aposteln zusammen bist und mit ihnen von einem Abendmahl zum nächsten ziehst, von einem Spätverkauf in den nächsten, verzeihst du ihnen weder ihr Altwerden, noch ihre – ganz natürliche – Erschöpfung, du verlangst einfach von ihnen, daß sie bis zum Schluß bei dir bleiben und auf denselben glühenden Kohlen stehen, auf denen auch du stehst, du hältst es für unerläßlich, sie jedes Mal daran zu erinnern – ich bin euch nachgefolgt, wißt ihr noch, damals, als ihr da standet und Wein trankt, an jenem Morgen vor fünfzehn Jahren bin ich euch nachgefolgt, obwohl ich erst siebzehn war und ihr schon Kinder hattet, ich habe euch geglaubt, als ihr sagtet, da gäbe es einen Luftzug, den man spüren kann, wenn man nur an der richtigen Stelle steht, wenn man sich an seinen Rock’n’Roll hält, ich konnte nicht umhin, euch zu glauben, als ihr von der anderen Seite des Lebens erzählt habt, von der schwarzen, dicken Luft, die von Pappelstaub und dem Lärm kaputter Lautsprecher erfüllt ist, ich wollte euch glauben, und ich glaubte euch, und wagt jetzt bloß nicht, all das Gesagte zu widerrufen, wagt nicht, auf die feuchten Gehwege zu fallen, ich erlaube es euch einfach nicht, abzutreten und mich allein zu lassen, auf diesen glühenden Kohlen, auf die ihr mich mit euren beknackten apostolischen Botschaften geführt habt, steht auf, steht auf und bleibt bei mir, kommt bloß nicht auf die Idee, einen Bogen um das Feuer zu machen, ihr braucht nicht im Traum zu hoffen, ihr Arschlöcher, ich könnte euch, verdammt, bis an mein Lebensende in Ruhe lassen, solange das Feuer mein Herz und meine Lungen noch nicht ganz verzehrt hat, werde ich mit meinen alten Turnlatschen

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