Anarchy in the UKR
Verbrennungen und Tätowierungen, kratzen sie von der groben, hart gewordenen Oberfläche des Lebens wie von einer Litfaßsäule die ganzen Ablagerungen, die ganze Scheiße ab, die das Leben überwuchert, sie lassen es nicht steinhart werden und absterben, mit ihren von Tabak und Asche gelben Nägeln kratzen sie die alten, kranken Schuppen von den üppigen Seiten des Lebens, mit ihren grimmigen Fäusten schlagen sie auf seine Rippen und Nieren ein, sie schreien das Leben an: los, beweg dich, heb deinen fetten Arsch, Ruhe kannst du dir abschminken, vergiß das sorglose Alter, noch gibt es uns, noch gibt es unsere Musik, unsere Herzen und Schwänze, wir lassen dich nicht gemütlich verfetten, wir werden dir jeden Morgen die Ablagerungen abkratzen, dir die Scheiße abwischen, die Krätze abpulen, den Dreck und die alte Ölfarbe, und wenn sie uns auch für Looser halten, das Komitee für den Dialog mit den Religionsgemeinschaften uns bekämpft, wenn auch keiner unseren hingebungsvollen Singsang versteht – wir werden trotzdem die Straße an einer verbotenen Stelle überqueren, weil wir wie niemand sonst Gewißheit darüber haben, daß es auf dieser Straße, wie auf jeder anderen auch, keine verbotenen Stellen gibt!
Ich weiß noch, wie ich diese Aufnahmen zum ersten Mal hörte, mein musikfanatischer Onkel überließ mir ein paar CDs, keiner von meinen Freunden und Bekannten hatte solche CDs, solche CDs hörten in diesem Land nur Musikfanatiker wie er. Ich erinnere mich noch an den Schock, als ich die Aufnahmen zum ersten Mal hörte, ich hatte keine Ahnung, wer dieser Iggy Pop ist, verstand aber, daß seine Platten nicht umsonst in meine Hände geraten waren. Rückblickend hat meine ganze Kindheit in einem einzigen grellen, beklemmenden Sommertag Platz, sie ist vergleichbar mit langem und zärtlichem Sex von zehnjähriger Dauer, in diesem Sex, in diesen Erinnerungen erkenne ich den Geruch der Möbel, den Geruch der Teppiche, den Geruch der Kirschen, den Geruch des warmen Wassers im Sommer, den Geruch nach Benzin, den Geruch der geschmolzenen Eiswaffel, ich erkenne die leuchtende Farbe der Kleidung, die Spiegelungen des Autofensters, den Schatten des feuchten Morgengrüns, der hohen, kühlen Bäumen, die vor mir auf die Welt gekommen sind und demnach auch vor mir sterben müssen, ich erinnere mich an die Stimmen vor dem Fenster, an das Knirschen der Autoreifen im warmen Sand, an das Geräusch herabfallender Äpfel und auffliegender Vögel, ich erinnere mich an alles, an die Stille meines Zimmers, eine gleichmäßige Sommerstille, die nichts zerstören konnte, so dicht und stabil war sie, gut, sehr gut, bis in die pulsierenden Schläfen, bis in das Knacken der Finger, bis in das heitere Herzklopfen hinein erinnere ich mich, wie in dieser Stille, sie aushöhlend wie einen Baum, zerfetzend wie einen Stapel Zeitungen, in die Knie zwingend wie eine Kuh im Gemetzel, meine Musik entstand, ich erinnere mich, daß sie nicht genügend Platz fand in meiner Stille, in meinen Erinnerungen, im Gleichmaß des Sommertages, wie sie seine Umrisse zerstörte, an die scharfkantigen Scheiben des Aquariums stieß und sie zerschlug, wie das Wasser sich langsam nach draußen ergoß und überall hin quoll, wie mein Gedächtnis voll Wasser lief, explodierte und sich über die vorgesehenen Grenzen hinaus ausdehnte, deshalb kann das Gedächtnis keine Grenzen haben, deshalb formt deine Musik deine Biographie, korrigiert sie, zerbricht und verkrüppelt sie, deshalb gibt es in diesem Leben nichts als dich und deinen Sound, deshalb gibt es auf dieser Straße, wie auf jeder anderen auch, einfach keine verbotenen Stellen.
9. Jethro Tull. Locomotive Breath.
Vor fünfzehn Jahren, zu Beginn der Neunziger, standen sie vor dem Tor, hinter dem sich das Leben in sein Gegenteil verkehrt. Sie ähnelten Aposteln, in Lederjacken und alten Stoffturnschuhen, schon morgens trafen sie sich am »Skwosnjak« zum Wein – an die Stelle haben sie jetzt ein beschissenes Restaurant hingesetzt, und ich habe verstanden, daß ihr Tor auch ungefähr da sein muß, irgendwo zwischen der Sumska- und der Dserzhinski-Straße, gleich neben dem KGB, was damit eigentlich nichts zu tun hat. Im Gegensatz zu ihnen habe ich mich keiner Sache auch nur angenähert, also auch nie gespürt, wie er ist – dieser schwarze Luftzug von der anderen Seite des Lebens, der Frischluft, Pappelstaub und die Seelen der depressiven Apostel hinter sich her in die süße Ausweglosigkeit zieht. Warum habe ich
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