Anarchy in the UKR
auf eure Nieren eindreschen, ich erwische euch in euren Gräbern, in die ihr so schnell und leicht abgehauen seid, ich hole euch aus euren Höhlen und Gewölben und schleppe eure toten Leiber über die staubigen Straßen von Charkiw, ich lade mir jeden von euch auf wie mein Kreuz, denn mir ist im Leben nichts geblieben als eure toten Körper, als euer apostolischer Eiter an meinen Fingern, als diese glühenden Kohlen unter meinen Füßen, von denen ihr, verdammt noch mal, nichts erzählt habt, vor deren Existenz ihr vergessen habt, mich zu warnen, kein Sterbenswörtchen habt ihr darüber verloren, kein einziges, nicht die kleinste Andeutung, verdammt!
Ich fühlte mich nie wirklich einbezogen in die großen und phantastischen Vorgänge, die sich die ganze Zeit um mich herum abspielten, ich mußte mich immer von dem distanzieren, was geschah, brauchte meine Vorgabe in Raum und Zeit, um all das als Unbeteiligter zu betrachten, um die kleinsten Details und Nebensächlichkeiten festzuhalten und abzuspeichern und sie, einmal festgehalten, vor fremden Augen zu schützen wie Brandwunden auf der Haut. Bei diesen dauernden Versuchen, alles festzuhalten, habe ich das Wichtigste verloren – meine Chance, das unsichtbare Tor zu durchschreiten, den Luftzug der Hölle zu spüren, mit neununddreißig Jahren zu verrecken, nachdem ich in dieser Zeit bereits alles erlebt habe, was es zu erleben gibt, natürlich hat es mir seinerzeit einfach an Mut und Kühnheit gefehlt, sie zu begleiten, ihnen zu folgen, als ich im nassen Sand die Abdrücke ihrer Turnschuhe entdeckte.
Mein ganzes Leben lang werde ich ihnen begegnen müssen, auf diese Gespenster aus der Vergangenheit stoßen, in dunklen Korridoren und U-Bahn-Unterführungen, in Taxis und Musikgeschäften, werde sehen müssen, wie das Leben sie kaputtgemacht, ihre Musik sie zerstört hat, wie schrecklich und abgerissen sie in dieser grausamen-gerechten Welt aussehen, ohne ihre heiligen Lederjacken, ohne Fahnen und Flöten, ohne den ganzen Underground und Rock’n’Roll, durch den Fleischwolf gedreht, durch die Schornsteine der Krematorien gejagt, umgestülpt wie ein schwarzes T-Shirt, mit Pappelstaub im Haar, den der unsichtbare Luftzug von der anderen Seite herangetragen hat:
Junkie-Kostik, ein früherer Gitarrist, der davon träumt, seine Gruppe wiederzugründen, aber vorläufig mit einer Haschreserve in der Gesäßtasche seiner Kordjeans am Eingang eines Nachtklubs steht und ohne Eintrittskarten keinen reinläßt;
Maria, die Wahnsinnige, mit Hunderten Tonbandaufnahmen, mit allen Alben von T. Rex und Jethro Tull, in deren Zimmer es nach Katzen und Wahnsinn riecht;
der Typ aus dem Rockklub, der auf dem Bahnhof als Transportarbeiter schuftet und der jetzt, wenn er in eine spontane Jamsession gerät, nicht mal seine Gitarre stimmen kann, dieselbe, auf der er mehr als fünfzehn Jahre lang gespielt hat;
Sir, der im August plötzlich starb und jetzt im Kulturpalast der Eisenbahner liegt und beobachtet, wie seine Freunde sich von ihm verabschieden und den ganzen Tag seine Lieblingsmusik für ihn auflegen und dabei keine Ahnung haben, ob das die Musik ist, die er auf seiner Beerdigung hören wollte, und die vor allem nicht einmal wissen, wen man danach fragen könnte. Sie haben sich einfach nichts zu sagen in diesem Kulturpalast – sie wissen nicht, ob ihm die Musik gefällt, er hört seine Lieblingsmusik und weiß nicht, wen er hier bitten soll, sie endlich abzustellen.
10. Sex Pistols. Anarchy In The U.K.
Ein halbes Jahr, das erhitzte Fleisch eines Lebens auf Straßen und Plätzen, nach all dem bleibt das Gefühl der Stille, das Gefühl eines ruhigen Fluges durch eine heiße, blaue Leere, leuchtende Sterne und kühle Wasser, die mit uns in Richtung Stille und Weisheit wandern, sind nur ein Teil von dem, was sich wirklich abspielt, ein sichtbarer, aber unvollständiger Teil. Unter der Oberfläche, der dunklen, dichten Schicht des Äußeren verbergen sich minimale, megarelevante Details, die leicht zu Boden sinken und dabei deinen Berührungen entgehen. Die Geschichten, die sich nur auf den ersten Blick ähneln, die zufälligen Gesichter, die du erfolglos aus deinem Gedächtnis zu verscheuchen suchst wie Heuschrecken aus dem Weizenfeld, die Namen, in der Dunkelheit gerufen, die Telefonnummern, in die Handflächen geschrieben, was wird aus ihnen, wenn sie außer mir keiner mehr braucht, wenn sie keiner beachtet – was soll damit werden? Zu wem werden die Geister kommen, wenn ich weg
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