Angeklagt - Dr. Bruckner
die Straße erreicht, die zur Bergmann-Klinik führte. Dr. Bruckner verlangsamte das Tempo. Er bog zur Klinikeinfahrt ein und mußte warten, bis der Pförtner die Schranke hochgedreht hatte. Dann fuhr er auf den Ärzteparkplatz.
Nachdenklich sagte er:
»Wir haben doch nur getan, was wir konnten, um der alten Dame die letzten Tage, die sie noch zu leben hatte, einigermaßen erträglich zu gestalten. Vielleicht hätte ich gar nicht operieren sollen. Aber –«, Thomas Bruckner zog den Zündschlüssel heraus, stieg aus dem Wagen und wartete, bis Heidmann das Auto verlassen hatte, dann schloß er ab, »ich habe doch nur versucht, Frau Schnell die Möglichkeit zu geben, wenigstens ein paar Wochen oder vielleicht sogar ein paar Monate mit ihrer Krebsgeschwulst leben zu können. Sie konnte doch nichts mehr essen. So ein Speiseröhrenkrebs ist eben etwas Furchtbares. Die Menschen verhungern bei lebendigem Leibe. Und wenn man ihnen nur eine Magenfistel anlegt, ihnen sozusagen die Suppe unter Umgehung des Mundes direkt in die Därme schüttet, so ist das doch abscheulich. Ich verstehe nicht, woran die Patientin gestorben ist. Ich habe ihr doch nur eine Umgehungsanastomose gelegt …«
»Und den gleichen Eingriff wollen Sie morgen wieder vornehmen! Vielleicht sollten Sie morgen nicht operieren.«
»Ich kann den Patienten doch nicht verhungern lassen, nur weil eine andere Patientin gestorben ist.«
»Das war die dritte Patientin!« Johann Heidmann folgte Thomas Bruckner in die Klinik. Er stieg mit ihm die Treppen zur Chirurgischen Abteilung hinauf. »Drei alte Patienten sterben nach Palliativ-Eingriffen …«
»Und nun meinen Sie, das gleiche könnte morgen geschehen, wenn ich Herrn Wegener wegen seines an sich inoperablen Kolon-Karzinoms operiere?«
»Ich fange allmählich an, abergläubisch zu werden!« Heidmann ging einen Schritt voraus, blieb vor dem Dienstzimmer stehen und legte die Hand auf die Klinke. »Unsere alten Schwestern glauben zwar, daß sich immer drei Todesfälle nacheinander ereignen und man danach etwas Ruhe hat. Sie hätten damit Ihr Soll erfüllt. Trotzdem würde ich morgen den Eingriff Oberarzt Wagner vornehmen lassen …«
»Kollege Wagner ist morgen nicht im Haus. Ich habe die Operation angesetzt, und dabei bleibt es! Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, daß ich feige bin und mich drücke, wenn es um eine Operation geht, die eigentlich keinen Ruhm einbringt, die nur einem Patienten hilft, der sowieso todgeweiht ist. Kommen Sie –«, er trat in das Dienstzimmer, dessen Tür Dr. Heidmann geöffnet hatte. »Vielleicht hat Schwester Angelika eine Tasse Kaffee für uns. Ich könnte jetzt eine kleine Stärkung gebrauchen.«
»Wie war es auf dem Friedhof?« Die Stationsschwester trat an den Schreibtisch, an den sich Dr. Bruckner gesetzt hatte. »Bei solchem Wetter –«, die alte Schwester schaute zum Fenster hin, »holt man sich auf Friedhöfen meistens eine Erkältung.«
»Es war unfreundlich.« Dr. Heidmann antwortete anstelle Dr. Bruckners. »Der Sohn hat sich benommen …« Johann Heidmann führte den Satz nicht zu Ende. Sein Kopfschütteln deutete aber an, was er sagen wollte.
»Er war gestern schon hier und wollte die Krankengeschichte seiner Mutter haben. Ich habe sie ihm aber nicht ausgehändigt.«
»Er hat ein Recht, Einblick in die Krankengeschichte zu nehmen.« Dr. Bruckner nahm seine Pfeife aus dem Schubfach, öffnete seine Tabaksdose und stopfte den Pfeifenkopf. Johann Heidmann reichte ihm ein angezündetes Streichholz. Bruckner saugte die Flamme in den Pfeifenkopf. »Sie können sie ihm ruhig überlassen, oder besser, wir lassen eine Fotokopie davon fertigen. Das Original sollten wir nicht herausgeben.«
»Das würde ich auch auf gar keinen Fall tun«, protestierte Schwester Angelika. »Ich würde mich nicht wundern, wenn der junge Mann uns einen Prozeß anhängt.«
»Kann ich die Krankengeschichte einmal sehen?« Bruckner paffte eine Rauchwolke in die Luft. »Wir hätten eben doch eine Sektion vornehmen lassen sollen.«
»Jetzt ist es zu spät.« Die alte Schwester ging an einen Aktenschrank, zog ein Schubfach auf und holte eine Krankengeschichte heraus. Sie legte sie Dr. Bruckner auf den Schreibtisch. »Bitte sehr.«
Heidmann stieß Schwester Angelika an, die zuschaute, wie Dr. Bruckner Seite um Seite durchblätterte. »Vergessen Sie unseren Kaffee nicht«, bat er.
»Ja, natürlich.« Die alte Schwester verschwand in der Kaffeeküche. Dr. Bruckner überflog den
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