Angstblüte (German Edition)
selber zu einer Art Bodenhaftung. Diego sammelte unermüdlich Sätze aus Büchern, die man für unsterblich hielt, weil sie drei- oder vierhundert Jahre überdauert hatten. Am liebsten stattete er sich mit Voltaire-Sätzen aus. Die eigneten sich dazu, eingerahmt und aufgehängt zu werden. Gundi belächelte Diegos Eifer. Mein Zitatenpflücker, sagte sie und nahm seine beiden Hände und küßte ihm die Fingerspitzen.
Karl benutzte Zitate nur in der Kunden-Post. In den Kundengesprächen gab er sich erfahrungsreich, hell und zukunftsfroh. Das war er auch. Zumindest, wenn er nicht allein war. Seine Kunden belebten ihn. Seine Vorschläge waren ganz und gar das Resultat dessen, was die Kunden ihm erzählten. Sobald er allein war, wußte er sich oft nicht mehr zu helfen. Mutlosigkeit breitete sich aus in ihm. Die Welt war anders. Sie rächte sich dafür, daß er sie gepriesen hatte, obwohl er wußte, daß sie anders war. Wenn die Kunden ihn so erlebten, so mutlos, sie müßten ihn für einen Betrüger halten. Jeder Mensch muß jedem anderen Menschen gegenüber die Welt preisen. Sonst hört sich alles auf. Verzweifeln darf jeder für sich.
Kein Mensch darf merken, wie mutlos du bist. Nicht einmal du selbst. Und Helen schon gar nicht. Deren prinzipielle, wenn auch zarte Unentwegtheit schloß die Fähigkeit aus, einen Menschen für mutlos zu halten. Andererseits genügte es, wenn er auf dem Weg zu Professor Schertenleib in Gräfelfing um die Mittagszeit auf dem Bahnsteig stand und die Schienen gleißten in der Sonne. Da war er sofort wieder bereit für jede Einbildung.
2.
Er mußte sich durchfragen durch dieses edle Labyrinth aus Gängen und Innenhöfen und fand schließlich hin. Ein Zimmer im Parterre. Raumhöhe, schätzte er, sechs Meter. Gundi, die sein Staunen bemerkte, sagte: 1904, denen war der Patient noch etwas wert.
Diego lag mit geschlossenen Augen, hing an mehreren Schläuchen und Leitungen, seine Lippen bewegten sich, er schlief nicht. Karl setzte sich auf den Stuhl am Bett und legte eine Hand so neben Diegos Linke, daß er sie berührte. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er wollte nicht, daß Gundi das bemerke. Sie sagte, Diego könne seit heute morgen so gut wie nicht mehr sprechen. Gestern habe er noch sprechen können. Aber er verstehe alles. Nicht wahr, Liebster. Diego bejahte durch Lippenbewegungen.
Karl legte seine Hand jetzt auf die Hand des Freundes und sagte: Ach, Lambert.
Gundi, die einen halben Meter vom Bett entfernt saß, sagte leise, aber scharf: Karl!
Entschuldige, sagte er und deutete auf den Kranken, als sei dessen elendes Daliegen schuld an seinem Versehen. Karl nahm jetzt die linke Hand des Freundes, umschloß sie mit beiden Händen. Er war im Augenblick nicht imstande, seinen Freund mit Diego anzusprechen, und Lambert durfte nicht sein. Das verstand er ja. Also verlangte er von sich das Unmögliche. Diego, sagte er und wußte, ohne hinzuschauen, daß Gundi ihm jetzt ermunternd zunickte. Noch einmal: Diego. Er spürte Gundis Zustimmung als eine Kräftigung. Aber er konnte nicht weiterreden. Wie der jetzt dalag, der Freund!
Gundi gab Karl das verabredete Zeichen. Der Besuch sollte kurz sein. Diego lag doch da, wie zu Tode erschöpft.
Karl verabschiedete sich mit einem langen Händedruck. Dazu sagte er, Diegos Gesichtsfarbe verrate ihm, daß Diego bald wieder gesund sein werde. Diegos Lippen kräuselten sich ein bißchen. Und das Frühjahr tue ein übriges, sagte Karl. Ist doch wunderbar, daß du ein Zimmer hast, in dem du die Vögel singen hörst. Tatsächlich hallten die Vogelstimmen, die von draußen hereindrangen, in dem hohen Zimmer wie in einer Kirche. Am liebsten hätte Karl gesagt, das sei wahnsinnig, diese geradezu tobenden Vogelstimmen in diesem kirchenhohen Krankenzimmer. Er spürte, daß alles, was er sagen konnte, unangebracht war. Aber er mußte so daherreden, um nicht merken zu lassen, wie ihm das weh tat, seinen Freund so daliegen zu sehen.
Gundi bat ihn, draußen auf sie zu warten, sie komme gleich.
Bis bald, lieber Diego. Krankheiten, die keinen Namen haben, halten sich nicht lang. Also, Diego, bis bald.
Er sollte mit Gundi hinausfahren in die Villa.
Gundi stieß die Sätze, die sie sagen mußte, mehr heraus, als daß sie sie sagte. Im Katastrophen-Telegrammstil. Die Mitteilung, die sie zu machen hatte, ließ nichts anderes zu. Diego will Trautmann Titan verkaufen. An Puma . Verhandelt wird seit Wochen. Und erst jetzt ist ein Ergebnis in Sicht gekommen.
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