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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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Kapitel 1
Der Sprung
    N och nie war ihm der Baum so hoch vorgekommen.
    Dämmer mühte sich den Stamm des riesigen Mammutbaums nach oben, wobei er seine Krallen tief in die weiche, rötliche Rinde versenkte. Bleiche Flechten wuchsen auf deren hervorstehenden Rippen und hier und da glänzte etwas Harz matt in den Furchen auf. In der Wärme der frühen Morgendämmerung dampfte der Baum und verströmte seinen berauschenden Duft. Um Dämmer herum funkelten und wirbelten Insekten, doch jetzt gerade hatte er keine Lust auf sie.
    Sein Vater Ikaron kletterte neben ihm, und obwohl er schon alt war, kam er schneller voran als sein Sohn. Dämmer strengte sich an, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Er war nur mit zwei statt drei Krallen an jeder Hand geboren worden und sich selbst den Baumstamm hochzuhieven war sehr anstrengend.
    »Werden meine anderen Krallen auch noch wachsen?«, fragte er seinen Vater.
    »Kann gut sein.«
    »Und wenn nicht?«
    »Dann hast du weniger, mit denen du greifen und dich hochziehen kannst«, sagte Ikaron. »Aber du hast ungewöhnlich starke Brust- und Schultermuskeln.«
    Dämmer sagte nichts, freute sich aber.
    »Das hilft, die Schwäche deiner Beine auszugleichen«, fügte sein Vater sachlich hinzu.
    »Oh«, sagte Dämmer und blickte überrascht nach unten. Ihm war gar nicht bewusst, dass er schwache Beine hatte, doch sein Vater hatte das offenbar bemerkt. Vielleicht war das eine Erklärung dafür, warum ihm das Klettern so schwerfiel.
    Vor genau vier Wochen war er geboren worden, mit dem Hinterteil zuerst und drei Minuten nach seiner Schwester Sylph. Blind und nackt, wie alle neugeborenen Chiropter, war er am Bauch seiner Mutter hochgekrochen und hatte sofort zu saugen angefangen. Innerhalb von Tagen konnte er klar und scharf sehen, es war ihm ein Fell gewachsen und er hatte an Gewicht gewonnen. Nun aß er die Insekten, die ihm seine Mutter gefangen und vorgekaut hatte.
    Und an diesem Morgen hatte ihn sein Vater im Nest geweckt und gesagt, es sei nun an der Zeit, den Baum hochzuklettern. Dann waren sie aufgebrochen, nur sie beide. Und obwohl Dämmer ziemlich nervös war, gefiel es ihm doch, wie alle auf ihn blickten: den jüngsten Sohn des Anführers der Kolonie.
    »Sehe ich komisch aus?«, fragte Dämmer jetzt. Er wiederholte lediglich, was er andere hatte sagen hören, einschließlich seiner eigenen Mutter, als sie dachte, er würde schlafen.
    Ikaron blickte zu ihm zurück. »Ja, du siehst ziemlich komisch aus.«
    Die Antwort enttäuschte Dämmer, auch wenn er wusste, dass es stimmte. Wenn er die anderen Neugeborenen betrachtete, sah er den Unterschied. Seine Brust und seine Schultern waren massiger als üblich und ließen ihn kopflastig erscheinen. Seine Ohren waren sehr groß und standen zu weit ab. Und am beschämendsten war, dass ihm auch nach vier Wochen noch kein Fell auf den Armen und den Segeln gewachsen war, weshalb er sich nackt vorkam wie ein frisch Geborenes. Er wünschte sich sehr, dass wenigstens seine Segel so aussähen wie die seines Vaters.
    »Papa, wie ist das, wenn man der Anführer ist?«
    Sein Vater streckte ein Hinterbein aus und zauste zärtlich das Fell auf Dämmers Kopf. »Das bedeutet viel Verantwortung, wenn man versucht, sich um jeden zu kümmern. Es ist nicht leicht, immer an alles zu denken.«
    »An was zum Beispiel?«
    »Also, bisher haben wir hier viel Glück gehabt. Reichlich zu essen. Keine Feinde. Ich hoffe, das bleibt auch so. Doch wenn es sich ändert, muss ich schwerwiegende Entscheidungen treffen.«
    Dämmer nickte und versuchte ernst auszusehen, wobei er keinerlei Vorstellung davon hatte, worüber sein Vater eigentlich sprach.
    »Werde ich eines Tages auch Anführer?«, fragte er.
    »Das glaube ich kaum.«
    »Wieso nicht?«, fragte Dämmer entrüstet.
    »Wenn ein Anführer stirbt, wird sein erstgeborener Sohn der neue Anführer.«
    »Das wäre dann Südwind«, sagte Dämmer verdrossen. Er kannte seinen ältesten Bruder kaum. Südwind war achtzehn Jahre älter als Dämmer und hatte eine Frau und viele Kinder. Dämmer war der Onkel von Dutzenden Nichten und Neffen und Großonkel von Hunderten anderen – und er war jünger als praktisch alle von ihnen. Das wurde schnell sehr verwirrend.
    »Aber«, sprach Ikaron weiter, »wenn durch irgendeine schreckliche Entwicklung der erstgeborene Sohn tot ist, übernimmt der zweitälteste Sohn die Führung und so weiter.«
    »Borasco, Shamal, Vardar …« Dämmer war stolz, dass er die Namen seiner acht älteren Brüder

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