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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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keinem Zeitpunkt ein.
    Humboldts Dilemma lässt sich leicht auf den Punkt bringen: Eigentlich musste er jene freien, liberalen, selbstbestimmten und tugendhaften Menschen, die seine Bildungsreform hervorbringen sollte, bereits voraussetzen, um diese überhaupt durchführen zu können! In einem Obrigkeitsstaat ohne ein mündiges Bürgertum aber war dies weitgehend unmöglich. Wie alle großen Reformer und Revolutionäre stand er vor dem Problem, dass er die Verhältnisse nicht ändern konnte, ohne die Menschen zu ändern. Und dass er umgekehrt die Menschen nicht ändern konnte, solange sich die Verhältnisse nicht geändert hatten.
    In den Jahrzehnten nach Humboldts Wirken wurde aus dem von ihm etablierten reformierten Gymnasium keine allgemeine Bürgerschule, sondern eine Schule für eine Elite. Bildung an einem Gymnasium zu erlangen, bedeutete von nun an für eine kleine Oberschicht, sich durch Bildung als Statussymbol gegenüber der breiten Mehrheit der Bevölkerung abzuheben – also genau das Gegenteil dessen, was Humboldt beabsichtigt hatte. Statt möglichst viele Schichten einzuschließen, diente Bildung nun dazu auszuschließen.
    Besonders unheilvoll wirkte sich die Entscheidung Humboldts aus, Latein und Griechisch in den Mittelpunkt des Gymnasialunterrichts zu stellen. Seit seinem Privatunterricht als Kind hatte er ein besonderes Faible für die Sprachen und die Kultur der Antike. Und er war der Ansicht, dass das Studium der alten Sprachen das Verständnis für jede andere Sprache ermögliche und erleichtere. Eine Behauptung, die oft wiederholt wurde und wird, aber von wissenschaftlicher Seite inzwischen als widerlegt gilt. Die Folge jedenfalls war ein gewaltiges Pensum an alten Sprachen im Lehrplan – mit einem fatalen Ergebnis! Denn eine solche Passion fernab von der Lebenswirklichkeit preußischen Lebens schloss die Kinder der Bauern und Handwerker von vornherein vom Gymnasialunterricht aus.
    Aus heutiger Sicht mutet es bizarr an, damals zu meinen, es sei in Berlin und Königsberg, Potsdam und Brandenburg unumgänglich, sich jahrelang in die Welt der Griechen einzufühlen – so als sei das allgemeine Bildungsziel eine Ausbildung zum Archäologen, Kunstkritiker oder Salonlöwen. Bedauerlicherweise erhielt Humboldts gut gemeintes überzeitliches Bildungsideal damit einen ziemlich kitschigen Einschlag, geboren aus der recht kurzzeitigen Antiken-Mode der Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert. In ihrer zeitaufwendigen und auch reichlich esoterischen Apotheose des Griechentums trug sein Bildungsbegriff gerade nicht dazu bei, den Horizont der preußischen Kinder für die Gegenwart und ihre Probleme zu öffnen. Bildung bekam dadurch vielmehr etwas dünkelhaft Weltfremdes mit weitreichenden Folgen über fast zwei Jahrhunderte. Und um das Ganze völlig auf den Kopf zu stellen, charakterisiert sich das » humanistische Bildungsideal « , das sich auf Humboldt beruft, seit zwei Jahrhunderten mehr durch seinen Dünkel als durch eine tatsächliche Erziehung zur Humanität. Je weniger reale Horizonterweiterung das Studium der alten Sprachen im 19. und 20. Jahrhundert bedeutete, umso prätentiöser spreizte sich das Ideal zum Ideal auf.
    Humboldts titanenhafte Leistung kann gleichwohl kaum hoch genug gelobt werden. Und nur vor diesem Hintergrund sollte erwähnt werden, dass auch er ein Kind seiner Zeit war und damit nach bestem Wissen und Gewissen Dinge anrichtete, die sich unheilvoll auswirkten. Sein Faible für das Griechentum machte die deutsche Kultur nicht griechischer. Als Erblast seines privaten Idealismus verhinderte es aber über viele Jahrzehnte fast flächendeckend, dass die vom preußischen Schöngeist völlig vernachlässigten Naturwissenschaften im deutschen Gymnasium ernsthaft Fuß fassen konnten. Nicht einmal, dass sein in allen Naturwissenschaften beschlagener Bruder Alexander den Deutschen die Faszination der Biologie, der Geologie, der Chemie und der Meteorologie vermitteln wollte, brachte Humboldt auf den Gedanken, darin etwas Lebenswichtiges zu sehen.
    Als drittes Manko neben der Überlast der alten Sprachen und der Geringschätzung der Naturwissenschaften tritt die Leibfeindlichkeit des Bildungsideals. Für Humboldt, so scheint es, war der Körper nur ein Transportmittel des Kopfes. Alle Anstrengungen waren allein auf den Geist gerichtet. Sie etablierten damit die erschreckende Tradition, Bildung als reine Geistes- und Herzensbildung zu betrachten. Alle anderen körperlichen Organe galten als

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