Anna, die Schule und der liebe Gott
Humboldts Ideale schwebt. Der Begriff der Arbeit war dem Adelszögling noch ebenso fremd gewesen wie seinen griechischen Idolen Platon und Aristoteles. Nicht etwa, weil es in Preußen keine arbeitende Bevölkerung von Bauern, Tagelöhnern und Handwerkern gegeben hätte, sondern weil Humboldt mit ihrer Lebenswirklichkeit kaum in Berührung gekommen war.
Bei Kerschensteiner wird alle Bildung zur Ausbildung, allerdings nicht zu einer Fachausbildung, sondern zum praktischen Training aller erdenklicher Künste und Fertigkeiten. Gebildet ist, wer vieles kann, und nicht der, der vieles weiß. Und wer vieles kann, wer sein Wollen, Machen und Tun kultiviert, der formt seinen Charakter zu dem eines guten und mündigen Staatsbürgers. Verglichen mit der Lebenswelt von Arbeitern zu Anfang des 20. Jahrhunderts, deren Arbeitskraft in der Kohle- und Stahlindustrie rücksichtslos verheizt wurde, war Kerschensteiners Programm zur Charakterformung mindestens ebenso revolutionär wie Humboldts Idee einer Elementarschulbildung für Bauernkinder hundert Jahre zuvor. Doch bedauerlicherweise setzte sich auch von Kerschensteiners Emanzipation des Arbeiters nur eine Miniatur durch: die Einführung der Berufsschule.
Das Erste, was von Humboldt übrig bleibt, ist also der Streit um die Frage: Bildung oder Ausbildung? Wer auch immer im 20. Jahrhundert das deutsche Schulsystem reformieren wollte, stets lief er Gefahr, sich zwischen den Polen Bildung versus Ausbildung und allgemeiner Bildung gegen praxisbezogene Bildung zu verheddern. Alle anderen denkbaren Kombinationen schienen kein Königsweg zu sein. Wer nur auf zweckgebundene Bildung als Ausbildung setzte, der musste sich den Vorwurf gefallen lassen, Fachidioten züchten zu wollen statt mündiger Staatsbürger. Wer dagegen nur Allgemeinbildung für sinnvolle Schulbildung hielt, weil man über den Tellerrand blicken können muss, der erntete den Spott, weltfremd zu sein, esoterisch und dünkelhaft. Wer, wie Kerschensteiner, Allgemeinbildung mit Ausbildung verknüpfte, verlor am Ende immer die erste auf Kosten der zweiten. Und wer praxisbezogene Bildung als Bildung propagierte, der gründete auf dieser Basis zwar Fachhochschulen (wie in den sechziger Jahren geschehen), reformierte damit aber nicht das gesamte Bildungssystem.
Was ist unter diesem Widerspruch aus unserem Bildungsbegriff heute geworden? Liest man die Studien gegenwärtiger Erziehungswissenschaftler, so orientieren sie sich an Worten wie » Bildungskapital « , » Humankapital « , » Bildungsressource « oder » Bildungsmarkt « . Die alles kannibalisierende Sprache der kapitalistischen Ökonomie verschlingt heute die Worte jener Pädagogen und Sozialwissenschaftler, die sich selbst als links und kritisch einschätzen. Dass Humboldt, falls er könnte, hier erbost gegen den Sarg klopfte, scheint nur sehr wenige noch zu stören. Auch wenn spätere Epochen einmal den Kopf darüber schütteln werden, dass wir es uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts angewöhnt haben, den Jargon der Ökonomie für die einzige Sprache zur Beschreibung individueller Bedürfnisse und sozialer Austauschbeziehungen zu halten – Bildung gilt aus ökonomischer Sicht » als zentraler Bestimmungsfaktor des langfristigen volkswirtschaftlichen Wachstums « . 11 Soll heißen: Je gebildeter eine Gesellschaft ist, umso wirtschaftlich produktiver ist sie. Bildung ist heute ein integraler Bestandteil der Verwertungsgesellschaft. Es fragt sich nur: was für einer?
Das zweite Humboldtsche Erbe ist die Frage nach dem politischen Auftrag des Bildungssystems. Selbst der noch so ökonomisch denkende Erziehungs- und Sozialwissenschaftler erkennt den Wert der Bildung nicht nur als Düngemittel des Bruttoinlandsprodukts. Damit eine Demokratie funktionieren kann, braucht sie viele Bürger, die die demokratischen Prozesse tatsächlich verstehen. » In einer demokratischen Gesellschaft « , schreiben die Soziologin Gudrun Quenzel von der Universität Bielefeld und der Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance in Berlin, » benötigen die Bürger und Bürgerinnen … zumindest ein Grundverständnis dieser Prozesse, da sie sonst die Entscheidungen ihrer gewählten Repräsentanten und Repräsentantinnen – unabhängig davon, ob sie diesen zustimmen – nicht länger rational nachvollziehen können. Bildung ist daher ein wichtiger Faktor für die Bearbeitung einer politischen Legitimationskrise: Können wichtige politische Entscheidungen und
Weitere Kostenlose Bücher