Anna, die Schule und der liebe Gott
Schulen gesetzt und dem Schulunterricht des Jahres 2012 beigewohnt. Und ich kenne die weltanschaulichen Hürden auf ideologisch vermintem Terrain ebenso wie die Argumente und Ausflüchte der Sachwalter des Status quo, denen die Mühen der Ebene den Blick auf die Berggipfel längst getrübt haben.
Bei alledem habe ich viel gelernt. Über das Funktionieren und die Beharrungskraft von Systemen und den Selbstverstärkungseffekt von Institutionen. Natürlich auch viel über Menschen und ihre Selbstbehauptungs- und Verteidigungsstrategien. So habe ich mir über die Zeit in Gesprächen abgewöhnt, die bestehende Schulpraxis in Deutschland zu kritisieren. Ich wollte einmal etwas anderes hören als die stets gleichen Argumente.
Ich wollte nicht mehr hören müssen, dass die Schüler an deutschen Schulen ständig dümmer und aufmerksamkeitsgestörter werden. Denn nach Sicht vieler Lehrer können » die Schüler heute nicht mal mehr Zeichensetzung, die Grundrechenarten oder sich eine Stunde lang konzentrieren « etc. Aber permanent schlechter werdende Schülergenerationen gibt es, seit es Schulen und Lehrer gibt. Und auch die heutige Lehrergeneration bestand einmal aus Schülern, die vieles nicht mal mehr konnten.
Ich wollte irgendwann auch nicht mehr hören, dass sich » inzwischen doch unglaublich viel getan « hat, denn mir begegnen an allen Lernorten noch immer hunderttausendfach die alten Schülerklagen über das Schulsystem. Und ich wollte nicht mehr die stets gleiche Schelte hören müssen, warum es gar nicht anders geht, als es derzeit an unseren Schulen Praxis ist, und dass all die Bildungsreformer doch » von nichts eine Ahnung « hätten. » Man kann sie nicht einmal mehr zählen « , entgegnete mir Mathias Brodkorb, der erboste Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern, auf meinen Essay im Magazin Cicero, » diese ewigen Ratschlaggeber, die zwar weder den Lehrerberuf erlernt noch je vor einer Klasse unterprivilegierter Erziehungsschwieriger gestanden haben, aber vom Ledersofa aus in lässiger Pose wohlmeinende und möglichst weitreichende Ratschläge erteilen. « 2 Dass Brodkorb selbst nie vor einer Klasse gestanden hat, sondern sofort nach dem Studium Berufspolitiker und im Alter von vierunddreißig Jahren Bildungsminister geworden ist, erzählt er nicht.
Natürlich ist das Argument, dass nur wer selbst » vor einer Klasse unterprivilegierter Erziehungsschwieriger gestanden hat « , das Bildungssystem kritisieren darf, befremdlich. Die Einzigen, die noch unsere Schulen reformieren dürften, wären dann Hauptschullehrer in sozialen Brennpunkten, und alle anderen hätten zu schweigen. Nach dieser Logik dürften nur noch Politiker Politiker, nur noch Banker Banker, nur noch Taxifahrer Taxifahrer und nur noch Philosophen Philosophen kritisieren. Und ein Bildungsminister, der kein Lehrer ist, wäre dazu verdammt, den Mund zu halten.
Die Lage, so viel scheint klar, ist angespannt – und das aus gut nachvollziehbaren Gründen. Denn selbst die Verteidiger des gegenwärtigen Zustands unseres Bildungssystems wissen, dass es so, wie es an deutschen Schulen mehrheitlich zugeht, nicht weiter zugehen kann und auch nicht weiter zugehen wird.
Ich habe es mir deshalb zur Gewohnheit gemacht, in persönlichen Gesprächen die Schule, so wie sie gegenwärtig ist, in den höchsten Tönen zu loben. Seitdem schwärme ich gegenüber Lehrern und Schulleitern von den besten Schulen, die wir je hatten. Es sei doch wirklich großartig, wie es an unseren Schulen heute zugeht. Diese tolle Lernatmosphäre! Diese vielen motivierten Schüler! Ist es nicht schier unglaublich, wie hoch das Bildungsniveau heute ist? Und ist Lehrer nicht eigentlich ein Traumberuf? Sofort schütteln viele Lehrer den Kopf über so viel Unwissenheit ihres Gesprächspartners. Da hat doch einer überhaupt keine Ahnung von den Nöten und Notwendigkeiten eines Lehrerlebens, von Stress und Unbehagen, Schulklima und Misserfolg.
Die Pointe daran ist einfach und schlicht. Kritisiert man gegenüber Lehrern die Schule, wird sie verteidigt. Lobt man sie hingegen, wird die bestehende Schulpraxis meist sofort scharf kritisiert. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Fühlt sich der Lehrer als Lehrer angegriffen, verteidigt er sich und das System, in dem er arbeitet (insofern es Teil seiner Identität ist). Wird er aber vom System getrennt, in dem er agieren muss, wird er sich selbst schnell und gern gegen den Druck des Systems verteidigen.
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