Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
machen. An der Kreuzung bei der Gasetnü-Gasse, wo stets ein großes Gedränge von Kutschen und Droschken ist, hörte Alexei Alexandrowitsch auf einmal seinen Namen von einer so lauten, fröhlichen Stimme rufen, daß er nicht umhinkonnte, sich umzusehen. An der Ecke des Fußsteigs stand in einem kurzen, modernen Überzieher, den niedrigen, modernen Hut schief auf dem Kopfe, mit einem lustigen Lächeln, das die weißen Zähne zwischen den roten Lippen sichtbar werden ließ, vergnügt, jugendfrisch und strahlend Stepan Arkadjewitsch, der ihn energisch anrief und dringend zum Anhalten aufforderte. Mit der einen Hand hielt er das Fenster einer an der Ecke haltenden Kutsche angefaßt, aus der ein Frauenkopf unter einem Samthute und zwei Kinderköpfchen herausschauten, und mit der andern Hand winkte er seinem Schwager lächelnd zu. Auch die Dame lächelte herzlich und freundlich und winkte gleichfalls mit der Hand nach Alexei Alexandrowitsch hin. Es war Dolly mit ihren Kindern.
Alexei Alexandrowitsch hatte in Moskau mit niemandem in Berührung kommen wollen, und am allerwenigsten mit dem Bruder seiner Frau. Er lüftete den Hut und wollte weiterfahren; aber Stepan Arkadjewitsch befahl dem Kutscher seines Schwagers zu halten und lief durch den Schnee hindurch zu diesem hin.
»Na, schäme dich was, daß du mich gar nichts hast wissen lassen! Bist du schon lange hier? Ich war gestern bei Dussot und las auf dem Fremdenbrett ›Karenin‹; aber es kam mir gar nicht in den Sinn, daß du das wärest!« sagt Stepan Arkadjewitsch, den Kopf durch das Wagenfenster hereinsteckend. »Sonst hätte ich dich aufgesucht. Wie freue ich mich, dich wiederzusehen!« Er schlug mit einem Fuße gegen den andern, um den Schnee von ihnen abzuklopfen. »Schäme dich, daß du uns von deinem Hiersein nichts mitgeteilt hast!« sagte er noch einmal.
»Ich hatte keine Zeit; ich bin sehr beschäftigt«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch in trockenem Tone.
»Komm doch mit hin zu meiner Frau; sie wünscht so sehr, dich zu sprechen.«
Alexei Alexandrowitsch wickelte das Reisetuch ab, in das er seine gegen Kälte empfindlichen Beine eingewickelt hatte, stieg aus dem Wagen und arbeitete sich durch den tiefen Schnee zu Darja Alexandrowna hindurch.
»Aber was stellt das vor, Alexei Alexandrowitsch? Warum lassen Sie uns so links liegen?« fragte Dolly lächelnd.
»Ich bin sehr beschäftigt gewesen. Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte er in einem Tone, aus dem man deutlich heraushörte, wie verdrießlich er über diese Begegnung war. »Wie ist Ihr Befinden?«
»Nun, und wie geht es meiner lieben Anna?«
Alexei Alexandrowitsch murmelte irgend etwas und wollte sich wieder entfernen. Aber Stepan Arkadjewitsch hielt ihn zurück.
»Hör mal, was wir morgen tun wollen! Dolly, lade ihn doch zum Mittagessen ein! Wir laden dann noch Kosnüschew und Peszow dazu, um ihm die Spitzen unserer Moskauer Intelligenz vorzustellen.«
»Also bitte, kommen Sie ja!« sagte Dolly. »Wir werden Sie um fünf Uhr erwarten oder, wenn Sie wollen, um sechs Uhr. Nun, wie geht es meiner lieben Anna? Wie lange ...«
»Sie ist gesund«, brummte Alexei Alexandrowitsch mit mürrischem Gesichte. »Es ist mir eine große Freude gewesen!« Damit ging er wieder zu seinem Wagen hin.
»Sie kommen also doch?« rief Dolly ihm nach.
Alexei Alexandrowitsch antwortete etwas, was Dolly vor dem Lärm der vorbeifahrenden Wagen nicht verstehen konnte.
»Ich komme morgen zu dir!« rief ihm Stepan Arkadjewitsch noch zu.
Alexei Alexandrowitsch setzte sich in seinen Wagen und lehnte sich so tief in eine Ecke, daß er niemand sah und von niemand gesehen wurde.
»Ein wunderlicher Geselle!« sagte Stepan Arkadjewitsch zu seiner Frau; dann sah er nach der Uhr, machte vor seinem Gesichte mit der Hand eine Bewegung, die eine Liebkosung für seine Frau und für die Kinder bedeutete, und schritt mit jugendlichem Gange auf dem Fußweg dahin.
»Stiwa! Stiwa!« rief ihm Dolly errötend nach.
Er wendete sich um.
»Ich muß ja für Grigori und Tanja Mäntel kaufen. Gib mir doch Geld!«
»Ach, das macht nichts; sage nur, ich würde es bezahlen!« Er nickte noch einem vorbeifahrenden Bekannten vergnügt zu und war verschwunden.
7
D er folgende Tag war ein Sonntag. Stepan Arkadjewitsch fuhr nach dem Großen Theater zur Ballettprobe, überreichte dem Fräulein Mascha Tschibisowa, einer hübschen, dank seiner
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