Anna Strong Chronicles 01 - Verführung der Nacht
Raums, die Hand auf dem Sarg der jungen Frau.
»Das war meine Ehefrau, Marianna.« Sein Tonfall klingt zurückhaltend, argwöhnisch, seine Stimme alterslos und uralt zugleich. »Wir haben uns zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts kennengelernt, als sie noch ein junges Mädchen war. Ich wollte mich nicht in sie verlieben. Ihr Vater kam als Patient in das Krankenhaus, in dem ich tätig war. Er hatte Tuberkulose, zu jener Zeit ein Todesurteil. Seine Frau war der Krankheit bereits zum Opfer gefallen, und ich konnte nichts für ihn tun, außer ihm die Schmerzen zu nehmen. Er wusste, dass er im Sterben lag. Er flehte mich an, mich seiner Tochter anzunehmen, weil sie niemanden mehr hatte, und ich gab ihm mein Wort. Als ich sie zum ersten Mal sah, bei seiner Beerdigung, wusste ich, dass ich verloren war.«
Mit den Fingern zeichnet er die feinen Züge auf dem Porträt nach. »Sie war so wunderschön. Rein im Herzen und im Geiste. Es war lange Zeit vergangen, seit ich mir erlaubt hatte, mein Herz an eine Sterbliche zu verlieren. Ich war verletzlicher als sie. Doch trotz meiner Befürchtungen ließ ich zu, dass ich mich in sie verliebte. Anfangs war es himmlisch. Es war himmlisch, bis sie von meiner wahren >Natur< erfuhr. Sie war fünfundzwanzig, als sie sich das Leben nahm.«
Sein Blick, verschwommen vor Erinnerungen, wird klar und gefährlich düster, als er mich fixiert . Erzähle mir nichts von unserer >Natur<, Anna. Du hast keine Ahnung, was dich erwartet. Je eher du lernst, dich von den Angelegenheiten der Sterblichen zu distanzieren, desto besser für dich.
Ich verstehe dich nicht, Avery. Du kannst dich nicht von den Angelegenheiten der Sterblichen distanziert haben, du bist Arzt.
Er winkt ab. Mein vergeblicher Versuch, für Hunderte Jahre der Unbedachtheit zu sühnen. So lange habe ich gebraucht, um zu erkennen, dass ich in Harmonie mit den Menschen leben will, statt sie als Beute zu betrachten. Als Arzt ist mir das möglich, ohne allzu sehr in ihr Leben verwickelt zu werden.
Aber diese Särge hier bezeugen die Tatsache, dass du nicht immer so gedacht hast. Du hast dich immer wieder in Sterbliche verliebt.
»Zu meinem unendlichen Bedauern«, donnert er. Beim Klang seiner Stimme zucke ich zusammen. »In hundert Jahren empfinde ich vielleicht genauso«, sage ich ruhig. »Aber jetzt habe ich einen Freund, der seit vierundzwanzig Stunden vermisst wird. Wenn du mir nicht mehr helfen kannst oder möchtest, verstehe ich das. Aber ich werde David finden, und falls ein Vampir etwas mit dieser Entführung zu tun haben sollte, so wird er es bereuen.«
Jetzt glaubst du also, Williams hätte etwas damit zu tun . Das hat er in meinem Kopf aufgeschnappt, ehe ich es selbst gedacht habe.
Ja. Er ist außer dir der Einzige, der von uns beiden weiß. Ich glaube, du solltest wissen, was er mir heute gesagt hat. Und zwar alles.
Ich lasse ihn die Unterhaltung mit Williams aus meinem Verstand ablesen. Als ich mich an seine Bemerkungen erinnere, Avery wolle mich aus San Diego fort haben, erstarrt Avery. »Ich habe nie behauptet, ich wolle, dass du die Stadt verlässt.«
»Nun, offensichtlich will er mich aus dem Weg haben. Kannst du dir vorstellen, was der Grund dafür sein könnte?« Avery denkt darüber nach und erlaubt mir Zugang zu seinem Geist, damit ich seinen Überlegungen folgen kann. Doch gleich darauf schüttelt er den Kopf. Dass du ein Vampir geworden bist, bedeutet für Williams keinerlei Bedrohung. Er ist eine alte Seele. Beinahe so alt wie ich. Du irrst dich. Nein .
Ich bin einen Schritt zurückgewichen. Ich weiß nicht viel über Williams, aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Zunächst einmal hat er gelogen, was deine Gefühle für mich angeht.
Und wenn es stimmt, dass ich keinerlei Bedrohung für ihn bin, warum will er mich dann glauben lassen, du wolltest, dass ich weggehe? Das ist das einzige Argument, das mich möglicherweise dazu bringen könnte, zu gehen.
Wie ich dir bereits s agte, erwidert Avery steif, habe ich nie behauptet, ich wolle, dass du gehst.
Was ist es dann? Was an mir könnte ihm gefährlich werden?
Avery geht zur Tür. Ich will nicht länger in diesem Raum bleiben. Ich gehe wieder nach unten.
Er wartet, lässt mich vorgehen, zieht dann die Tür hinter uns zu und bemerkt : Wenn du Fragen über Williams hast, kannst du sie ihm gleich selbst stellen. Er wird in einer halben Stunde hier sein.
Das wird eine lange halbe Stunde. Avery verschwindet in der Bibliothek und lässt mich im Wohnzimmer
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