Teuflische Stiche
Freitag, 22. März
»Sibelius hat doch jeden Tag auf seinem Stammplatz gesessen, immer gegenüber von Onken«, sagte die schöne Gertrud, »jetzt ist er seit Tagen nicht mehr da gewesen! Hast du ihn gesehen?« Sie hockte neben dem Schäferhund-Dobermann-Mischling eines alten Mannes in der Achternstraße. Die gestickte Bordüre am Saum ihres himmelblauen Trachtenkleids interessierte den Hund. Mit seiner feuchten Nasenspitze versuchte er unter den Rock zu kommen. Sanft streichelte die schöne Gertrud über sein Fell, kraulte seinen Hinterkopf und sah den Bettler weiter fragend an.
Erst musste der Alte sich räuspern, dann hustete er ausgiebig und antwortete endlich mit einer kratzigen Stimme: »Nee.«
»Du kennst ihn doch gut, oder?«
»Joo.«
»Aber wo er steckt, weißt du nicht?«
»Nee.«
»Ich dachte, ihr seid befreundet, Sibelius und du.«
»Hör mich auf mit Freundschaft. Mit Freunden musste reden können. Mit dem kannste das nicht. Der liest seine Bücher, schreibt sich was auf, bloß sagen tut er nix.«
»Na, ab und zu wird er schon was gesagt haben.«
»Stör mich jetzt nicht, hat er mich angeblafft. Nee, da kann ich auch gleich mit meinem Hund reden. Der hört mir wenigstens zu.« Mit geübten Fingern drehte sich der Bettler eine Zigarette und steckte sie an.
»Wenn du was von ihm hörst, sagst du es mir dann?«
»Mach ich.«
Sie streichelte noch einmal mit der Hand über das Fell am Hals des Hundes und richtete sich auf. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr rechtes Knie. Sie ließ sich nichts anmerken, strich ihr Kleid glatt, fuhr kurz durch ihre braunen Haare, die lockig bis zur Schulter reichten, und korrigierte den Sitz ihres BH-Trägers. Mit einem freundlichen Nicken verabschiedete sie sich von dem Alten und ging dann in Richtung Leffers, um da einen anderen Bettler nach Sibelius zu fragen.
Überall bekam sie ähnliche Antworten. Niemand wusste, wo er geblieben war.
Freiherr Sibelius Balthasar von Eck, so pflegte er sich vorzustellen, mit dem Zylinder in der weit ausholenden Hand und mit einer gekonnten Verbeugung. Er gehörte zu den Landstreichern, oder wie man heute sagt, den Fahrenden und Obdachlosen, den Bettlern und Berbern und Wohnungslosen in und um Oldenburg. Vor zwei, vielleicht auch schon vor drei oder vier Jahren, war er plötzlich aufgetaucht und gehörte seitdem zum Stadtbild. Nachmittags setzte er sich gegenüber von Onken auf einen prallen Seesack und positionierte seinen braunen Lederzylinder vor sich. Wenn ihm jemand mindestens einen Euro hineinwarf, bedankte er sich in den unterschiedlichsten Sprachen und lächelte schelmisch. Es gab Passanten, die deshalb gerne ein weiteres Geldstück in den Zylinder legten und gespannt darauf warteten, in welcher Sprache sich der Bettler jetzt bedanken würde. Manchmal entstand der Eindruck, der Freiherr erfände schließlich so etwas wie ein neues Esperanto.
Er las die ganze Zeit in abgegriffenen Büchern. Dabei waren Werke wie »Die spirituellen Gesetze der Sexualität«, aber auch Fachbücher über Aderlässe, Eurythmie, Mykologie oder Quantenphysik. Wenn jemand interessiert stehen blieb, den Kopf schief legte, um einen Titel zu erkennen, konnte es vorkommen, dass von Eck ihm ruckartig das Exemplar unter die Nase hielt und fragte: »Wollen Sie es bitte schön geschenkt bekommen?« Nie wurde beobachtet, dass ein Passant sein Angebot annahm.
Freiherr Sibelius Balthasar von Eck kleidete sich in Leder. Angefangen bei seinen Stiefeln mit achtzehn Ösen, durch die er Lederbänder zog. Seine Lederhose hatte Zickzackschnürung an den Seiten. Wie sein ledernes Hemd schimmerte alles in mattem Dunkelbraun. Bei Regenwetter und im Winter trug er einen bis auf die Schuhe reichenden Kutschermantel mit großem Kragen und über die Arme fallender Pelerine, aufgesetzten Taschen und breiten Stulpen an den Ärmeln. Kam er zu seinem Platz oder ging er irgendwohin, bedeckte der Zylinder sein grau meliertes blondes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Mit seinen knapp zwei Metern Körpergröße überragte er die meisten Passanten um Haupteslänge.
Was er in seinem Seesack mit sich herumtrug, war sein Geheimnis, so wie vieles an Freiherr Sibelius Balthasar von Eck geheimnisvoll blieb.
Die schöne Gertrud machte sich Sorgen um Sibelius. Sie machte sich überhaupt jede Menge Sorgen. Besonders um die Frauen und Männer vom Rand der Gesellschaft, extrem aber um ihren absonderlichen Schützling Sibelius. Nachdem sie Witwe geworden war, hatte
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