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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Charlotta die Vierte es zuerst lose zusammen und steckte es dann ab. Miss Lavendar hatte geklagt, das sie an rein gar nichts mehr Spaß hätte. Aber als sie in dem hübschen Kleid dastand, war wieder das alte Funkeln in ihren Augen.
    »Was bin ich doch für eine alberne dumme Gans«, seufzte sie. »Ich schäme mich ja so, dass mich ein neues Kleid - auch wenn es ein traumhaft schönes Organdy-Kleid ist - so aufheitert. Ein reines Gewissen und eine extra Spende für die Mission bringen das nicht zuwege.«
    Nach der ersten Woche ging Anne für einen Tag nach Green Gables, um Strümpfe zu stopfen und Davy, der überquoll vor Fragen, Rede und Antwort zu stehen. Am Abend besuchte sie Paul unten an der Uferstraße. Als sie am niedrigen Irving’schen Wohnzimmer vorbeiging, sah sie, wie Paul bei jemand auf dem Schoß saß. Im nächsten Augenblick kam er schon den Flur entlanggesaust.
    »Miss Shirley«, rief er aufgeregt, »stellen Sie sich vor, was passiert ist. Etwas ganz Tolles. Vater ist da . . . stellen Sie sich das vor! Vater ist da! Kommen Sie herein. Vater, das ist meine liebe Lehrerin. Du weißt schon, Vater.«
    Stephen Irving ging lächelnd auf Anne zu. Er war ein großer ansehnlicher Mann mittleren Alters mit eisengrauen Haaren, tief liegenden dunklen Augen und einem markanten, traurigen Gesicht. »Er sieht genau richtig aus als Held einer Liebesgeschichte«, dachte Anne und bekam tief befriedigt eine Gänsehaut. Hatte jemand, den man sich als Helden auserkoren hatte, eine Glatze, einen Buckel oder nicht die Spur Männlichkeit, so war das enttäuschend. Anne hätte es entsetzlich gefunden, wenn Miss Lavendars Angebeteter anders ausgesehen hätte.
    »Das ist also die >liebe Lehrerin<, von der ich schon so viel gehört habe«, sagte Mr Irving und schüttelte ihr herzlich die Hand. »Pauls Briefe handeln fast nur von Ihnen, Miss Shirley, sodass ich Sie schon ganz gut kenne. Ich möchte Ihnen Pauls wegen danken. Jemand wie Sie hat er gebraucht. Meine Mutter ist eine liebe, gute Frau. Aber energisch und sachlich, wie sie nun mal ist, packt sie den Jungen manchmal nicht richtig an. Was ihr fehlt, haben Sie ihm gegeben. So war Paul geradezu ideal hier aufgehoben, das Beste, was einem Kind, das keine Mutter mehr hat, passieren kann.«
    Lob hört jeder gern. Bei Mr Irvings Lobgesang stand Anne regelrecht wie »eine Blume in leuchtend roter Blüte«. Der viel beschäftigte, erschöpfte Mann von Welt sah sie an. Noch nie hatte er ein aufrichtigeres und hübscheres Mädchen als diese »Neuenglische« Lehrerin mit den roten Haaren und den schönen Augen gesehen.
    Paul saß wonnestrahlend zwischen ihnen.
    »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass Vater kommt«, sagte er und strahlte sie an. »Großmutter wusste auch nichts davon. Es war eine Riesenüberraschung. Normalerweise«, Paul schüttelte ernst seinen braunen Lockenkopf, »kann ich Überraschungen nicht ausstehen. Dann ist die ganze Vorfreude hin. Aber in diesem Fall ist das schon in Ordnung. Vater kam gestern Abend an, als ich schon schlief. Nachdem Großmutter und Mary Joe die erste Überraschung verwunden hatten, kamen Großmutter und er nach oben, nur um mich anzuschauen, nicht um mich aufzuwecken. Aber ich war gleich hellwach und sah meinen Vater. Ich kann Ihnen sagen, ich habe mich regelrecht auf ihn gestürzt.«
    »Mit einer Riesenumarmung«, sagte Mr Irving und legte lächelnd den Arm um Paul. »Ich habe meinen jungen kaum wieder erkannt, so groß und kräftig ist er geworden und so braun gebrannt.«
    »Schwer zu sagen, wer sich mehr gefreut hat, Großmutter oder ich«, fuhr Paul fort. »Großmutter hat den ganzen Tag in der Küche gewerkelt und ihm alle seine Lieblingsspeisen gekocht. Das wollte sie nicht Maryjoe überlassen, hat sie gemeint. So zeigt sie eben, dass sie sich freut. Ich sitze am liebsten einfach nur da und rede mit Vater. Aber ich muss Sie kurz allein lassen. Ich muss für Maryjoe die Kühe in den Stall treiben. Das gehört zu meinen täglichen Pflichten.«
    Als Paul hinausgesaust war, um seine »tägliche Pflicht« zu erledigen, unterhielten sich Anne und Mr Irving über dies und jenes. Aber Anne spürte, dass er insgeheim mit den Gedanken nicht bei der Sache war. Schließlich konnte er es nicht mehr für sich behalten.
    »Paul hat in seinem letzten Brief geschrieben, Sie wollten zusammen eine alte ... Freundin von mir besuchen ... Miss Lewis im Steinhaus in Grafton. Kennen Sie sie gut?«
    »Ja, sehr gut sogar, sie ist eine meiner besten

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