Anne in Avonlea
Sommersprossen auf der Nase. Ihr Spiegel enthüllte ihr nie das schwer bestimmbare Wechselspiel ihrer Gefühle, das wie eine leuchtende Flamme über ihr Gesicht huschte, noch den Reiz ihrer Phantasie und das Lachen, das in ihren großen Augen aufleuchtete.
War Anne streng genommen nicht schön, so besaß sie doch einen gewissen, schwer zu beschreibenden Charme, ein auffallendes Äußeres, eine angenehme Mädchenhaftigkeit, aber zugleich auch eine innere Stärke, was im Betrachter ein Gefühl von Zufriedenheit hinterließ. Annes engste Freunde spürten, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass ihre größte Anziehungskraft in ihrer gestalterischen Kraft lag. Sie verbreitete um sich eine Atmosphäre, in der alles geschehen konnte.
Beim Erdbeerpflücken vertraute Charlotta die Vierte Anne ihren Kummer wegen Miss Lavendar an. Das warmherzige kleine Dienstmädchen machte sich ernstlich Sorgen um die von ihr bewunderte Frau des Hauses.
»Miss Lavendar geht es nicht gut, Miss Shirley, gar nicht gut. Obwohl sie sich nie beklagt. Das geht jetzt schon eine ganze Weile so, seit Sie und Paul das erste Mal hier waren. An dem Abend hat sie sich eine Erkältung geholt. Als sie beide gegangen waren, war sie noch lange draußen im Dunkeln im Garten. Sie hatte nur ein dünnes Tuch um. Bestimmt hat sie da gefroren. Seitdem wirkt sie lustlos und hat an nichts Interesse. Sie tut auch nicht mehr so, als erwarte sie Besuch. Sie macht sich nicht mehr fein und gar nichts, Miss. Nur wenn Sie kommen, ist sie ein bisschen munterer. Das Schlimmste ist, Miss Shirley«, Charlotta die Vierte senkte die Stimme, als hätte sie höchst seltsame, schlimme Krankheitsanzeichen zu vermelden, »dass sie sich nicht mal aufregt, wenn ich Sachen kaputtmache. Stellen Sie sich vor, Miss Shirley, gestern hab ich ihre grüngelbe Schale zerdeppert, die immer auf dem Bücherregal stand. Ihre Großmutter hat sie ihr aus England mitgebracht. Miss Lavendar war immer ganz heikel damit. Ich hab sie behutsam wie immer abgestaubt, Miss Shirley. Da ist sie mir weggerutscht. Ich konnte sie nicht mehr auffangen, sie zerbrach in tausend Millionen Teile. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid es mir getan hat. Aber ich hatte solche Angst, Miss. Ich dachte, Miss Lavendar würde furchtbar mit mir schimpfen. Das wäre mir immer noch lieber gewesen, als wie sie es dann hinnahm. Sie kam ins Zimmer, schaute kaum hin und sagte: >Macht nichts, Charlotta. Sammle die Scherben auf und wirf sie weg.< Das war alles, Miss Shirley. >Sammle die Scherben auf und wirf sie weg<, so als wäre es gar nicht die Schale, die ihre Großmutter ihr aus England mitgebracht hat. Oh, es geht ihr gar nicht gut und mir ist auch nicht wohl dabei zumute. Wo sie nur mich hat, die sich um sie kümmert.«
Charlotta der Vierten traten Tränen in die Augen. Anne streichelte ihre kleine braune Hand, in der sie die rosa Erdbeerschüssel mit dem Sprung hielt.
»Miss Lavendar würde ein Tapetenwechsel gut tun, Charlotta. Sie ist zu viel allein. Können wir sie nicht dazu überreden, eine kleine Reise zu machen?«
Charlotta mit ihren buschigen Augenbrauen schüttelte unglücklich den Kopf.
»Das glaube ich nicht, Miss Shirley. Miss Lavendar hasst es auf Besuch zu gehen, ln ihrem ganzen Leben hat sie nur drei ihrer Verwandten besucht. Sie sagt, sie tut es nur aus familiärer Verpflichtung. Als sie von ihrem letzten Besuch zurückkam, hat sie gemeint, das wäre das allerletzte Mal gewesen. >Allein zu Hause und sicher unter meinem Dach ist mir immer noch lieber, Charlotta<, sagte sie zu mir. >Meine Verwandten behandeln mich wie eine alte Jungfer, das bekommt mir ganz und gar nicht.< Genau das hat sie gesagt, Miss Shirley. >Das bekommt mir ganz und gar nicht.< Also hätte es wohl keinen Sinn, sie dazu zu überreden.«
»Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen«, sagte Anne entschieden, als sie die letzte Erdbeere, die noch hineinpasste, in die rosa Schüssel legte. »Sobald ich Ferien habe, komme ich für eine Woche her. Wir machen jeden Tag ein Picknick, malen uns alles Mögliche aus und versuchen Miss Lavendar ein wenig aufzuheitern.«
»Das ist es, Miss Shirley«, rief Charlotta die Vierte begeistert. Sie freute sich für Miss Lavendar und auch für sich. Eine ganze Woche, in der sie Anne studieren konnte - da würde sie bestimmt lernen, sich wie sie zu bewegen und zu benehmen.
Als sie nach Echo Lodge zurückkehrten, hatten Miss Lavendar und Paul den kleinen viereckigen Tisch aus der Küche in den
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