Anne in Avonlea
sie erwartete. Anne und Diana standen an der alten Steinbank, Charlotta die Vierte in ihrer Mitte, die ihre kahlen, zitternden Hände in ihre schob.
Mr Allen schlug sein Buch auf, die Zeremonie begann. Gerade in dem Augenblick, als Miss Lavendar und Stephen Irving zu Mann und Frau erklärt wurden, geschah etwas wunderbar Symbolisches. Plötzlich brach die Sonne durch den grauen Himmel und schien strahlend auf die glückliche Braut. Der Garten war voll tanzender Schatten und flackernden Lichts.
»Welch wundervolles Omen«, dachte Anne, als sie zur Braut lief und ihr einen Kuss gab. Dann ließen die drei Mädchen die Gäste und das Brautpaar lachend im Garten zurück und rannten ins Haus, um nachzuschauen, dass alles für das Festessen bereit war.
»Ich bin so froh, dass es vorbei ist, Miss Shirley«, flüsterte Charlotte die Vierte. »Sie sind verheiratet, egal was auch geschieht. Die Tüten mit Reis stehen in der Speisekammer, die alten Schuhe sind hinter der Tür und die Sahne steht auf der Kellerstufe.«
Um halb drei machten sich Mrs und Mr Irving auf den Weg. Alle begleiteten sie nach Bright River, um sie am Nachmittagszug zu verabschieden. Als Miss Lavendar-Verzeihung, Mrs. Irving - über die Türschwelle des Hauses trat, streuten Gilbert und die Mädchen Reis. Charlotta die Vierte warf so zielsicher einen alten Schuh, dass er Mr Allan fast am Kopf getroffen hätte. Paul machte ihnen das allerschönste Abschiedsgeschenk. Er erschien in der Tür und schlug wie wild eine große alte kupferne Tischglocke, die auf dem Kaminsims im Esszimmer gestanden hatte. Paul wollte nur mächtig Lärm machen. Aber als das Dröhnen verhallte, schallte von überall her über den Fluss klar, lieblich und immer schwächer werdend das Glockenspiel der »Feen-Hochzeitsglocken«, so als entböten Miss Lavendars geliebte Echos einen Gruß und Lebewohl. Unter diesen süßen Klängen fuhr Miss Lavendar aus ihrem früheren Leben aus Träumen und Phantasien in ein erfullteres Leben aus Realitäten.
Zwei Stunden später kehrten Anne und Charlotta die Vierte zurück zum Steinhaus. Gilbert musste in West Grafton etwas besorgen, Diana musste zu Hause etwas besorgen. Anne und Charlotta wollten aufräumen und dann das kleine Steinhaus verriegeln. Der Garten war wie ein Meer aus Sonnenschein, Schmetterlinge flatterten umher, Bienen summten. Aber das Haus wirkte bereits einsam und verlassen, wie es nach großen Festlichkeiten immer der Fall ist.
»Ach ja, ist es nicht öde?«, schluchzte Charlotta die Vierte, die den ganzen Nachhauseweg vom Bahnhof geweint hatte. »Eine Hochzeit ist fast so traurig wie eine Beerdigung, Miss Shirley.«
Es gab viel zu tun. Der Zimmerschmuck musste abgenommen, das Geschirr gespült, die restlichen Köstlichkeiten für Charlottas Bruder zu Hause eingepackt werden. Anne gab keine Ruhe, bis alles in schönster Ordnung war. Nachdem sich Charlotta mit ihrer Habe auf den Nachhauseweg gemacht hatte, ging Anne in die still daliegenden Zimmer und fühlte sich wie jemand, der allein durch einen verlassenen Bankettsaal wandelt. Dann schloss sie die Läden. Anschließend verriegelte sie die Tür und setzte sich unter die Silberpappel, um auf Gilbert zu warten. Sie war sehr erschöpft, aber sie hing noch immer endlos vielen Gedanken nach.
»Woran denkst du, Anne?«, fragte Gilbert, der den Weg entlangkam. Er hatte Pferd und Wagen an der Straße stehen lassen.
»An Miss Lavendar und Mr Irving«, antwortete Anne verträumt. »Ist es nicht schön, wie nun alles gekommen ist - dass sie nach all den Jahren der Trennung und Missverständnisse wieder zusammengefunden haben?«
»Ja«, sagte Gilbert und schaute Anne unverwandt an. »Aber wäre es nicht noch schöner, Anne, wäre es nicht zu der Trennung und den Missverständnissen gekommen, wenn sie Hand in Hand durchs Leben gegangen wären und auf gemeinsame Erinnerungen zurückblicken könnten?«
Einen Augenblick lang hatte Anne ein seltsames Herzflattern. Zum ersten Mal wurde sie unter Gilberts Blicken unsicher, ihr sonst blasses Gesicht überzog eine leichte Röte. Es war, als wäre ein Schleier gelüftet worden, was ihr einen Blick auf unvermutete Gefühle und Realitäten gestattete. Vielleicht kam die Liebe nicht mit Pomp und Getöse wie ein klirrend dahinreitender Ritter daher. Vielleicht stahl sie sich auf leisen Sohlen zu einem, wie ein alter Freund. Vielleicht kam sie einem sehr prosaisch vor, bis sie plötzlich von einem Lichtstrahl erhellt wurde und alles zum Klingen
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