Anne in Avonlea
Interesse wecken< meinst, Anne. Nämlich zum Beispiel dieses verfallene Haus der Boulters. Hat man je so ein hässliches Gemäuer gesehen? Und steht auch noch direkt an der Straße! Ein altes Haus ohne ein heiles Fenster erinnert mich immer an einen Toten, dem die Augen ausgepickt wurden.«
»Ein altes leer stehendes Haus ist einfach ein trauriger Anblick«, sagte Anne verträumt. »Mir kommt es vor, als dächte es über die Vergangenheit nach und trauerte den schönen alten Zeiten nach. Marilla sagt, vor langer Zeit hätte in dem Haus eine große Familie gelebt. Es wäre wirklich schön gewesen, mit einem netten Garten und ganz bewachsen mit Rosen, ln dem Haus wohnten viele kleine Kinder, es war von Lachen und Singen erfüllt. Jetzt steht es verlassen da, niemand außer dem Wind streift noch darin herum. Wie einsam und traurig es sich fühlen muss! Vielleicht kehren sie alle in mondhellen Nächten zurück - die Geister der kleinen Kinder aus uralten Zeiten, die Rosen und die Lieder. Und für eine kleine Weile kann das alte Haus träumen, es wäre wieder jung und von Freude erfüllt.«
Diana schüttelte den Kopf.
»Ich stelle mir nie so etwas vor, Anne. Erinnerst du dich nicht mehr, wie ärgerlich meine Mutter und Marilla waren, als wir uns einbildeten, im Geisterwald hausten Gespenster? Bis heute traue ich mich in der Dunkelheit nicht mehr durch diesen Wald. Und wenn ich anfinge, mir beim alten Boulter-Haus so was vorzustellen, würde ich mich daran auch nicht mehr vorbeitrauen. Außerdem sind die Kinder nicht tot. Sie sind längst erwachsen und bester Dinge. Eins der Kinder ist Metzger. Und Blumen und Lieder haben sowieso keine Geister.« Anne unterdrückte einen kleinen Seufzer. Sie hatte Diana wirklich gern, sie waren immer gute Freundinnen gewesen. Aber ihre Wanderungen ins Reich der Phantasie musste sie allein antreten. Der Weg dorthin führte über einen verwunschenen Pfad, wohin nicht einmal ihre liebste Freundin ihr zu folgen vermochte.
Während sie in Carmody waren, ging ein Gewitterschauer nieder. Doch er hielt nicht lange an und der Rückweg war herrlich. Er führte über Feldwege, an denen Regentropfen glitzerten, und durch kleine von Bäumen bestandene Senken, wo nasser Farn einen würzigen Duft verströmte. Aber gerade als sie in den Weg zur Cuthbert-Farm einbogen, sah Anne etwas, das dem Ganzen jede Schönheit nahm. Rechts von ihnen stand nass vom Regen Mr Harrisons prächtig gedeihender, reifer Hafer. Und mitten im weitläufigen graugrünen Feld stand - eine Kuh. Sie steckte bis zu den glänzenden Flanken im üppigen Wuchs, wedelte mit der Quaste und blinzelte sie seelenruhig an. Anne ließ die Zügel fallen, sprang auf und kniff die Lippen zusammen, was nichts Gutes ahnen ließ für den plündernden Vierbeiner.
Sie sagte nichts, aber sie kletterte pfeilschnell am Rad hinunter und huschte über den Zaun, noch ehe Diana begriff, was los war.
»Anne, komm zurück!«, schrie Diana gellend, als sie die Sprache wieder gefunden hatte. »Du ruinierst dein Kleid . ..«
»Sie hört mich nicht!« dachte Diana verzweifelt. »Allein kriegt sie die Kuh nie und nimmer da raus. Ich muss ihr helfen!«
Anne stürmte durch das Korn wie eine Verrückte. Diana hüpfte flink hinunter, band das Pferd an einen Pflock, schlug den Rock ihres hübschen Baumwollkleides über die Schultern, kletterte über den Zaun und nahm die Verfolgung ihrer wild gewordenen Freundin auf. Sie war schneller als Anne, die von dem am Körper klebenden, völlig durchnässten Rock behindert wurde. Bald überholte Diana sie. Sie hinterließen eine Spur, deren Anblick Mr Harrison das Herz gebrochen hätte.
»Anne, um Himmels willen, bleib stehen«, keuchte die arme Diana. »Ich bin völlig außer Atem und du bist nass bis auf die Haut.«
»Ich . . . muss . . . diese . . . Kuh . . . hier . . . herausschaffen . . . ehe ... Mr Harrison ... sie entdeckt«, sagte Anne nach Luft ringend. »Und . .. wenn ich . . . hier ertrinke . . . Wir. . . müssen ... es schaffen.«
Aber die Kuh schien nicht einzusehen, warum sie sich von ihrem köstlichen Futter vertreiben lassen sollte. Kaum hatten sich die beiden ihr völlig außer Atem genähert, drehte sie sich um und stob geradewegs zur anderen Seite des Feldes.
»Verjagt sie«, schrie Anne. »Renn, Diana, renn.«
Diana rannte los. Anne ebenfalls und die aufgestöberte Kuh rannte wie besessen über das Feld. »So was Störrisches«, dachte Diana. Es dauerte geschlagene zehn Minuten, ehe sie sie durch
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