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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Probleme.
    In der Phantasie segelte sie über uralte Meere, die an die fernen Ufer sagenumwobener Länder spülten, wie das versunkene Atlantis und Elysium. In diesen Träumen fühlte sie sich reicher als im wirklichen Leben; denn Dinge, die man sieht, gehen vorüber, aber Dinge, die man nicht sehen kann, sind von bleibendem Wert.

02 - Herbstfreuden
    Die nächste Woche verging wie im Fluge und war angefüllt mit unzähligen »letzten Erledigungen«, wie Anne es nannte. Abschiedsbesuche mussten gemacht und empfangen werden, die mehr oder minder erfreulich waren - je nachdem, ob man sich aufrichtig freute über Annes Pläne oder fand, sie bilde sich zu viel ein wegen dem College. Letztere hielten es für ihre Pflicht, Anne »einen Dämpfer aufzusetzen«.
    An einem Abend gab der D.V.V. bei den Pyes Anne und Gilbert zu Ehren eine Abschiedsparty. Man hatte sich für das Haus der Pyes entschieden, teils weil es groß und dafür gut geeignet war, teils weil zu befürchten stand, dass die Pye-Mädchen fern bleiben würden, wenn ihr Angebot, die Party bei sich stattfinden zu lassen, ausgeschlagen wurde. Es war ein netter Abend, denn die Pye-Mädchen waren - entgegen ihrer Angewohnheit - reizend und sagten oder taten nichts, was die Harmonie gestört hätte. Josie war sogar ungewöhnlich liebenswürdig - so liebenswürdig, dass sie leutselig zu Anne sagte:
    »Das neue Kleid steht dir recht gut, Anne. Ehrlich, du siehst fast hübsch darin aus.«
    »Das ist aber nett von dir«, antwortete Anne mit funkelnden Blicken. Ihr Sinn für Humor machte sich. Bemerkungen, die sie mit vierzehn noch gekränkt hätten, amüsierten sie jetzt nur noch. Josie meinte, dass Anne mit ihren funkelnden Augen sie insgeheim auslachte. Aber sie flüsterte Gertie nur zu, als sie nach unten gingen, dass Anne Shirley jetzt, wo sie aufs College ging, bestimmt noch wichtiger tun würde - du wirst sehen!
    Der ganze »alte Haufen« war da: Diana Barry, bewacht von dem treuen Fred; Jane Andrews, adrett gekleidet, klug und unkompliziert; Ruby Gillis, die in einer cremefarbenen Seidenbluse und einer roten Geranie in ihren hellen Haaren hübsch wie nie aussah; Gilbert Blythe und Charlie Sloane, die sich beide möglichst in Annes Nähe hielten, die ihnen aber auswich; Carrie Sloane, die blass und trübsinnig dreinsah, weil ihr Vater angeblich Oliver Kimball das Haus verboten hatte; Moody Spurgeon MacPherson, dessen rundes Gesicht so rund war und dessen abstehende Ohren so abstanden wie immer; und Billy Andrews, der den ganzen Abend in einer Ecke saß und lachte, wenn jemand ihn ansprach, und Anne Shirley mit einem fröhlichen Grinsen auf seinem breiten, sommersprossigen Gesicht anschaute.
    Anne genoss den Abend ungemein, aber fast wäre er doch noch verdorben worden. Gilbert machte wieder den Fehler und sagte irgendetwas Sentimentales zu ihr, als sie im Mondschein auf der Veranda zu Abend saßen. Anne strafte ihn, indem sie besonders nett zu Charlie Sloane war und sich von ihm nach Hause bringen ließ. Sie stellte jedoch fest, dass die Rache niemanden schlimmer trifft als den, der sie ausheckt. Gilbert ging beschwingt von dannen mit Ruby Gillis. Anne konnte sie lachen und munter plaudern hören, als sie in der stillen frischen Herbstluft davonschlenderten. Sie unterhielten sich offenbar blendend, während Charlie Sloane sie furchtbar langweilte. Er schwatzte unaufhörlich und nicht ein einziges Mal, auch nicht rein zufällig, erzählte er etwas, das zuzuhören gelohnt hätte. Anne warf gelegentlich abwesend »Ja« oder »Nein« ein. Ihre Gedanken kreisten vielmehr darum, wie schön Ruby an dem Abend ausgesehen hatte, was Charlie in dem Mondlicht für vorstehende Augen hatte - noch schlimmer als bei Tageslicht -, und dass die Welt doch kein so freundlicher Ort war, wie es ihr früher an dem Abend vorgekommen war.
    »Ich bin einfach nur müde - das ist alles«, sagte sie zu sich, als sie sich endlich in ihrem Zimmer befand. Aber eine leise Freude stieg in ihr auf, als sie Gilbert am Abend darauf mit festen schnellen Schritten durch den Geisterwald und über die alte Holzbrücke kommen sah. Also verbrachte Gilbert diesen letzten Abend doch nicht mit Ruby Gillis!
    »Du siehst müde aus, Anne«, sagte er.
    »Ich bin müde und obendrein habe ich miese Laune. Müde bin ich, weil ich den ganzen Tag genäht und meinen Koffer gepackt habe. Aber mies gelaunt bin ich, weil sechs Frauen hier waren, um sich von mir zu verabschieden, und alle haben sie es fertig gebracht,

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