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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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war. Aber alle Gedanken an unvernünftige Verehrer verschwanden aus ihrem Kopf, als sie in die schlichte, unsentimentale Atmosphäre der Küche von Green Gables eintrat, wo ein acht Jahre alter Junge auf dem Sofa saß und bitterlich weinte.
    »Was ist los, Davy?«, fragte Anne und nahm ihn in den Arm. »Wo sind Manila und Dora?«
    »Marilla bringt Dora ins Bett«, schluchzte Davy, »und ich weine, weil Dora holterdipolter die Kellerstufen runter gefallen ist und sich die Nase aufgeschürft hat, und ...«
    »Schon gut, brauchst nicht zu weinen, mein Schatz. Sie tut dir Leid, aber Weinen hilft ihr auch nicht. Morgen geht es ihr wieder besser. Weinen hilft nichts und niemandem, Davy-Junge, und ...«
    »Ich weine nicht, weil Dora in den Keller gefallen ist«, sagte Davy, der Annes gut gemeinte Worte zunehmend verbittert unterbrach. »Ich weine, weil ich nicht dabei war, als sie runter gefallen ist. Immer verpasse ich die lustigsten Sachen!«
    »O Davy!« Anne unterdrückte ein Lachen. »Nennst du das lustig, wenn die arme Dora die Treppe hinunterfällt und sich weh tut?«
    »Sie hat sich ja nicht schlimm weh getan«, sagte Davy keck. »Klar, wenn sie tot gewesen wäre, hätte es mir wirklich Leid getan. Aber eine Keith stirbt nicht so leicht. Da sind sie gleich wie die Blewetts. Herb Blewett ist letzten Mittwoch vom Heuboden gefallen und geradewegs durch die Rübenschütte runter in den Stall gepurzelt, wo ein wildes, wütendes Pferd drin war, und ist ihm genau vor die Hufe gerollt. Aber er hat es überlebt, hat sich nur drei Knochen gebrochen. Mrs Lynde sagt, es gäbe Leute, die nicht mal mit einem Schlachtbeil totzukriegen wären. Zieht Mrs Lynde morgen zu uns, Anne?«
    »Ja, Davy, und du wirst hoffentlich immer lieb und nett zu ihr sein.«
    »Werde ich. Aber werde ich auch ab und zu von ihr ins Bett gebracht, Anne?«
    »Vielleicht. Warum?«
    »Weil ich vor ihr meine Gebete nicht aufsage«, sagte Davy sehr entschieden.
    »Und warum nicht?«
    »Weil es nicht nett ist, vor Fremden mit Gott zu reden. Dora kann ja ihre Gebete vor Mrs Lynde aufsagen, wenn’s ihr nichts ausmacht, aber ich tu’s nicht. Ich warte, bis sie gegangen ist, und bete dann. Das geht doch, Anne?«
    »Ja, wenn du nicht ganz das Beten vergisst, Davy-Junge.«
    »Ich vergesse es nicht, da kannst du Gift drauf nehmen. Beten macht Riesenspaß, finde ich. Aber allein zu beten nicht so, als sie vor dir aufzusagen, Anne. Ich versteh gar nicht, warum du von uns wegwillst.«
    »Ich will eigentlich nicht, Davy, aber es bleibt mir nichts anderes übrig.«
    »Wenn du’s nicht willst, dann musst du ja auch nicht. Du bist schließlich erwachsen. Wenn ich groß bin, tu ich nie mehr was, was ich nicht will, Anne.«
    »Dein ganzes Leben lang wirst du Dinge tun müssen, die dir zuwider sind, Davy.«
    »Tu ich nicht«, sagte Davy geradeheraus. »Das sollte mir einfallen! Ich muss jetzt schon dauernd Dinge tun, die mir gegen den Strich gehen, weil du und Marilla mich sonst ins Bett stecken. Aber wenn ich groß bin, lass ich das nicht mehr mit mir machen, dann lass ich mir von niemandem mehr was vorschreiben. Wär’s nur schon so weit! Sag mal, Anne, Milty Boulter behauptet, seine Mutter hätte gesagt, dass du nur aufs College gehst, um dir da einen Mann zu angeln. Stimmt das, Anne? Das will ich wissen.«
    Einen Augenblick lang flammte in Anne Wut auf. Dann lachte sie und machte sich bewusst, dass Mrs Boulters taktloses Geklatsche ihr egal sein konnte.
    »Nein, Davy, es stimmt nicht. Ich werde studieren und viel Neues dazulernen.«
    »Was denn? Und wenn du dir nun doch einen Mann angeln willst - wie stellst du das an? Das will ich wissen«, beharrte Davy, für den das Thema offensichtlich eine gewisse Faszination besaß.
    »Da fragst du am besten Mrs Boulter«, sagte Anne unbedacht. »Sie weiß darüber scheint’s besser Bescheid als ich.«
    »Mach ich, wenn ich sie das nächste Mal sehe«, sagte Davy ernst.
    »Davy! Wehe, wenn du das tust!«, rief Anne, der klar war, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
    »Aber das hast du doch eben selbst gesagt«, wandte Davy beleidigt ein.
    »Zeit ins Bett zu gehen«, ordnete Anne an, um sich damit aus der Bredouille zu ziehen.
    Als Davy ins Bett gegangen war, ging Anne hinunter zur Victoria Island und saß allein im Mondschein. Das Wasser plätscherte vor sich hin. Anne hatte diesen Bach immer geliebt. So manchen Traum hatte sie an einem glitzernden Wasser geträumt. Dort vergaß sie das bissige Gerede boshafter Nachbarn und alle

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