Lynne Graham
1. KAPITEL
Zum ersten Mal seit zehn Jahren betrat Sergio Torrente den Palazzo Azzarini.
Die prächtige Villa lag mitten in der Toskana und war berühmt für die vom bedeutendsten Architekten des sechzehnten Jahrhunderts inspirierte Bauweise. Rundbögen und Marmor prägten den Stil, die Harmonie der Formen war schon oft gelobt worden. Auf den Weinbergen, die den Palazzo umgaben, wurde der in der ganzen Welt bekannte Azzarini-Wein angebaut. Die Pinien verströmten ihren würzigen Duft, und so weit das Auge reichte, reihten sich die sanften Hügel dieser lieblichen Landschaft aneinander.
Im Inneren des Palazzos jedoch hatten finanzielle Rückschläge der Familie in der letzten Zeit ihre Spuren hinterlassen. Die atemberaubende Kunstsammlung war verschwunden, und eine leichte Schäbigkeit war an die Stelle einstiger Pracht getreten. Aber jetzt gehört alles mir, freute sich Sergio. Jeder Stein und jedes Körnchen des fruchtbaren Bodens. Und er war reich genug, um die Uhr zurückzudrehen und der Verwahrlosung ein Ende zu bereiten.
Er hatte sich genommen, was ihm seit seiner Geburt versprochen war. Sollte er in diesem Moment nicht Triumph empfinden? Doch er hatte schon vor langer Zeit aufgehört zu fühlen. Zuerst war es nur ein Schutzmechanismus gewesen, aber nach und nach war es ihm zu einer Gewohnheit geworden, die er nicht mehr missen wollte. Auf diese Weise litt er nicht mehr unter emotionalen Höhenflügen und Abstürzen. Wenn er das Bedürfnis hatte, sich lebendig zu fühlen, suchte er sich körperliche Herausforderungen. Er betrieb mehrere Extremsportarten und kannte keine Furcht. Doch es gab auch nichts, was ihn wirklich berührte.
Ohne Eile schlenderte Sergio durch die leere Eingangshalle, in der das Echo seiner Schritte widerhallte. Früher einmal war der Palazzo ein Ort des Glücks und er selbst ein liebender Sohn gewesen. Die Zuneigung der Familie, Wohlstand und Sicherheit hielt er stets für selbstverständlich. Doch diese angenehmen Erinnerungen waren fast wie weggewischt von den albtraumhaften Ereignissen, die auf die glückliche Zeit folgten. Inzwischen wusste Sergio mehr über die menschliche Gier, als ihm lieb war. Sein attraktives Gesicht wirkte plötzlich düster. Er trat auf die Terrasse hinaus. Auch im Garten waren Zeichen der Verwahrlosung zu erkennen. Die Sträucher waren schon lange nicht mehr beschnitten worden, und in den Beeten wucherte das Unkraut. Doch die blühenden Rosen, die an den uralten Mauern des Palazzos emporrankten, verströmten noch den gleichen süßen Duft wie vor zehn Jahren. Bei dem Geräusch von näher kommenden Schritten drehte Sergio sich um. Eine Frau kam auf ihn zu.
Platinblonde Locken umrahmten Grazias ebenmäßiges Gesicht. Das weiße eng anliegende Kleid betonte die Rundungen ihres Körpers und ließ keinen Zweifel daran, dass sie unter dem Seidenstoff vollkommen nackt war. Grazia hatte schon immer gewusst, was einen Mann an einer Frau am meisten anzog: Es war nicht die Kunst gepflegter Unterhaltung.
„Wirf mich nicht raus!“ Der Blick aus ihren fast türkisfarbenen Augen wirkte neckend und flehend zugleich. „Ich würde alles tun, um eine zweite Chance bei dir zu bekommen.“
Spöttisch hob Sergio eine Augenbraue. „Vergiss es.“
„Auch nicht, wenn du die Regeln machst? Ohne jede Bedingung von meiner Seite? Ich kann sehr stilvoll um Verzeihung bitten!“ Mit einem provozierenden Blick sank sie anmutig vor ihm auf die Knie und streckte die Hand nach seinem Gürtel aus.
Für den Bruchteil einer Sekunde versteifte Sergio sich, dann brach er in anerkennendes Lachen aus. Grazia scherte sich nicht um Moral, doch immerhin stand sie dazu. Die schöne Aristokratin war immer zu einem Abenteuer bereit. Sergio kannte sie gut, denn einmal hatte sie ihm gehört. Eines Tages aber wurden seine Träume zerschlagen, denn sie wandte sich seinem Bruder zu. Liebe zählte für Grazia nicht; sie ging dorthin, wo das Geld war. Inzwischen hatte die Zeit gewaltige Veränderungen mit sich gebracht, und jetzt war Sergio Milliardär. Die Weinberge von Azzarini stellten nur einen kleinen Teil seines Unternehmens dar.
„Du bist die Frau meines Bruders“, erinnerte er sie leise. Er lehnte seine schmalen Hüften gegen die Brüstung, nur wenige Zentimeter außerhalb der Reichweite von Grazias Händen. „Und ich bin kein Ehebrecher, cara mia.“
Sein Handy klingelte. „Entschuldige mich“, sagte er kühl und ging wieder ins Haus, während sie immer noch unterwürfig auf den harten
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