Ansichten eines Clowns
Ich zog mein rechtes Hosenbein hoch und betrachtete mein
aufgeschürftes Knie; die Schürfungen waren oberflächlich, die Schwellung harmlos, ich goß mir einen großen Kognak ein, trank das Glas halb leer und goß den Rest über mein wundes Knie, humpelte in die Küche zurück und stellte den Kognak in den Eisschrank. Erst jetzt fiel mir ein, daß Kostert mir den Schnaps, den ich mir
ausbedungen hatte, gar nicht gebracht hatte. Sicher hatte er geglaubt, es wäre aus pädagogischen Gründen besser, mir keinen zu bringen, und hatte der christlichen Sache damit sieben Mark fünfzig gespart. Ich nahm mir vor, ihn anzurufen und ihn um Überweisung des Betrags zu bitten. Dieser Hund sollte nicht so ganz ungeschoren davonkommen, und außerdem brauchte ich das Geld. Ich hatte fünf Jahre lang viel mehr verdient, als ich hätte ausgeben müssen, und doch war alles weg. Ich konnte natürlich weiter auf der dreißig-bis-fünfzig-Mark-Ebene tingeln, sobald mein Knie wieder ganz heil war; es war mir an sich egal, das Publikum in diesen miesen Sälen ist sogar netter als in den Varietes. Aber dreißig bis fünfzig Mark pro Tag sind einfach zu wenig, die Hotelzimmer zu klein, man stößt beim Training an Tisch und Schränke, und ich bin der Meinung, daß ein Badezimmer kein Luxus ist, und wenn man mit fünf
Koffern reist, ein Taxi keine Verschwendung.
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Ich nahm den Kognak noch einmal aus dem Eisschrank und trank einen Schluck
aus der Flasche. Ich bin kein Säufer. Alkohol tut mir wohl, seitdem Marie gegangen ist. Ich war auch nicht mehr an Geldschwierigkeiten gewöhnt, und die Tatsache, daß ich nur noch eine Mark besaß und keine Aussicht, bald erheblich dazu zu verdienen, machte mich nervös. Das einzige, was ich wirklich verkaufen könnte, wäre das
Fahrrad gewesen, aber wenn ich mich entschließen würde, tingeln zu gehen, würde das Fahrrad sehr nützlich sein, es würde mir Taxi und Fahrgeld ersparen. An den Besitz der Wohnung war eine Bedingung geknüpft: ich durfte sie nicht verkaufen oder vermieten. Ein typisches Reicheleutegeschenk. Immer ist ein Haken dabei. Ich
brachte es fertig, keinen Kognak mehr zu trinken, ging ins Wohnzimmer und schlug das Telefonbuch auf.
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Ich bin in Bonn geboren und kenne hier viele Leute: Verwandte, Bekannte,
ehemalige Mitschüler. Meine Eltern wohnen hier, und mein Bruder Leo, der unter Züpfners Patenschaft konvertiert ist, studiert hier katholische Theologie. Meine Eltern würde ich notwendigerweise einmal sehen müssen, schon um die
Geldgeschichten mit ihnen zu regeln. Vielleicht werde ich das auch einem
Rechtsanwalt übergeben. Ich bin in dieser Frage noch unentschlossen. Seit dem Tod meiner Schwester Henriette existieren meine Eltern für mich nicht mehr als solche.
Henriette ist schon siebzehn Jahre tot. Sie war sechzehn, als der Krieg zu Ende ging, ein schönes Mädchen, blond, die beste Tennisspielerin zwischen Bonn und Remagen.
Damals hieß es, die jungen Mädchen sollten sich freiwillig zur Flak melden, und Henriette meldete sich, im Februar 1945. Es ging alles so rasch und reibungslos, daß ichs gar nicht begriff. Ich kam aus der Schule, überquerte die Kölner Straße und sah Henriette in der Straßenbahn sitzen, die gerade in Richtung Bonn abfuhr. Sie winkte mir zu und lachte, und ich lachte auch. Sie hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, einen hübschen dunkelblauen Hut auf und den dicken blauen Wintermantel mit dem Pelzkragen an. Ich hatte sie noch nie mit Hut gesehen, sie hatte sich immer geweigert, einen aufzusetzen. Der Hut veränderte sie sehr. Sie sah wie eine junge Frau aus. Ich dachte, sie mache einen Ausflug, obwohl es eine merkwürdige Zeit für Ausflüge war. Aber den Schulen war damals alles zuzutrauen. Sie versuchten sogar, uns im Luftschutzkeller Dreisatz beizubringen, obwohl wir die Artillerie schon hörten.
Unser Lehrer Brühl sang mit uns »Frommes und Nationales« wie er es nannte,
worunter er »Ein Haus voll Glorie schauet« wie »Siehst du im Osten das
Morgenrot« verstand. Nachts, wenn es für eine halbe Stunde einmal ruhig wurde, hörte man immer nur marschierende Füße: ita-22
lienische Kriegsgefangene (es war uns in der Schule erklärt worden, warum die
Italiener jetzt nicht mehr Verbündete waren, sondern als Gefangene bei uns
arbeiteten, aber ich habe bis heute nicht begriffen, wieso), russische Kriegsgefangene, gefangene Frauen, deutsche Soldaten; marschierende Füße die ganze Nacht hindurch. Kein Mensch wußte
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