Eine skandalöse Braut
1
Die Gasse unter ihm war total verdreckt und stank widerlich, wenn er vom Sims fiel, würde Lord Alexander St. James auf einer riesigen Ratte landen, da war er sich ziemlich sicher. Weil es nicht zu seinem bevorzugten Zeitvertreib gehörte, verhuschte Nagetiere unter sich zu zerquetschen, packte er fester zu und schätzte die Entfernung zum nächsten Hausdach ab. Von hier aus schien der Abgrund so breit zu sein wie die Strecke zwischen London und Edinburgh. Aber in Wahrheit galt es nur, wenige Fuß zu überwinden.
»Was zum Teufel ist denn mit dir los?«, zischte hinter ihm in der Dunkelheit eine Stimme. »Hüpf schon rüber. Das hier war schließlich deine Idee.«
»Ich hüpfe nicht«, schoss er zurück. Es widerstrebte ihm, zuzugeben, dass er ein Problem mit der Höhe hatte. Das war so seit jener Nacht, in der er mit dem Mut des Verzweifelten die Mauer zur Zitadelle von Badajoz überwunden hatte. Er konnte sich noch lebhaft an den niederprasselnden Regen erinnern; an die Männer, die sich auf den Leitern drängten; an den riesigen, schwarzen Abgrund unter ihnen.
»Ich weiß sehr wohl, dass es meine Idee war«, murmelte er.
»Dann bin ich sicher, du stimmst mit mir darin überein, dass wir vorwärtskommen sollten. Es sei denn, du hast ein persönliches Interesse daran, in dem Gefängnis Newgate zu landen. Ein Interesse, das ich übrigens nicht verspüre. Mit jedem Moment, den wir zögern, rückt die Morgendämmerung näher.«
Newgate. Alex hatte eine ebenso große Abneigung gegen enge Räume wie gegen große Höhen. Die Geschichte, die seine Großmutter ihm erst vor wenigen Tagen erzählt hatte, ließ in ihm den Wunsch erwachen, seine Fantasie sei nicht gar so lebhaft. Das Letzte, was er wollte, war, in einer verwahrlosten Zelle eingekerkert zu sein. Aber für die Menschen, die er liebte, musste er Risiken eingehen, überlegte er gelassen und maß den Abgrund noch einmal mit einem abschätzenden Blick. Er musste sich eingestehen, dass er seine Großmutter verehrte.
Der Gedanke beseelte ihn so sehr, dass er den Sprung wagte. Mit einem dumpfen Knall landete er auf dem nächsten Hausdach, aber es gelang ihm zum Glück, das Gleichgewicht auf den rußigen Schindeln zu halten. Er machte seinem Begleiter mit der Hand ein Zeichen, ehe er sich in geduckter Haltung auf dem Dach vorwärtsbewegte und das nächste Haus ansteuerte.
Der Mond war rund wie eine Oblate in dieser Nacht und wurde immer wieder von Wolken verdeckt. Das war gut, wenn man sich heimlich über die Dächer bewegen wollte, aber man konnte auch nicht sehr viel erkennen. Nach zwei weiteren Gassen, die sie mit gewagten Sprüngen überwanden, zu denen Alex sich zwang, erreichten sie ihr Ziel und hangelten sich von der Dachtraufe zu einem Balkon hinunter, von dem aus man einen kleinen, ummauerten Garten überblicken konnte.
Michael Hepburn, Marquess of Longhaven, glitt zuerst nach unten und landete leichtfüßig wie ein Tänzer. Alex fragte sich nicht zum ersten Mal, was genau sein Freund im Dienste des Kriegsministeriums machte. Er sprang neben ihn und meinte: »Was hat dir dein Spion über die Aufteilung im Innern des Hauses erzählt?«
Michael spähte durch das Glas der Fenstertüren in den dunklen Raum. »Ich könnte in diesem Augenblick im Klub sitzen und einen ordentlichen Brandy genießen …«
»Hör schon auf zu jammern«, knurrte Alex. »Du lebst doch auf, wenn es gilt, solchen Machenschaften nachzugehen. Zu unserem Glück ist das Schloss leicht zu knacken. Ich habe es im Handumdrehen auf.«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, knarzte es nur wenige Augenblicke später leise, was in Alex’ Ohren jedoch unnatürlich laut klang. Er ging voran und schlüpfte in das dunkle Schlafzimmer. Mit einem raschen Blick erfasste er die in Dunkelheit getauchten Formen eines großen Betts mit Betthimmel sowie eines Schranks. Etwas Weißes lag auf dem Bett ausgebreitet, und als er es sich genauer anschaute, sah er, dass es sich um ein Nachthemd handelte, das mit hübscher Spitze verziert war. Jemand hatte die Bettdecke bereits einladend zurückgeschlagen. Das jungfräuliche Nachthemd gab ihm das Gefühl, ein Eindringling zu sein – und verdammt, das war er genau genommen auch. Aber er hatte einen guten Grund, redete er sich ein.
»Das hier ist das Schlafzimmer von Lord Hathaways Tochter«, bemerkte Michael knapp. »Wir müssen sein Arbeitszimmer und seine Suite auf der anderen Seite des Flurs durchsuchen. Da die Räume Seiner Lordschaft zur Straße gehen
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