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Ansichten Eines Clowns

Ansichten Eines Clowns

Titel: Ansichten Eines Clowns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Boll , Heinrich Böll
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Leo war immer so erpicht drauf gewesen, meine wahre Meinung, mein wahres Gesicht, mein wahres Ich zu sehen. Er sollte es sehen. Er hatte immer Angst vor meinen »Masken«, vor meiner Spielerei, vor dem, was er »unernst« nannte, wenn ich keine Schminke trug. Mein Schminkkoffer war noch unterwegs zwischen Bochum und Bonn. Als ich im Badezimmer das weiße Wandschränkchen öffnete, war es zu spät. Ich hätte daran denken müssen, welche tödliche Sentimentalität Gegenständen innewohnt. Maries Tuben und Tiegel, Fläschchen und Stifte: es war nichts mehr davon im Schrank, und daß so eindeutig nichts mehr von ihr darin war, war so schlimm, als wenn ich eine Tube oder einen Tiegel von ihr gefunden hätte. Alles weg. Vielleicht war Monika Silvs so barmherzig gewesen, alles einzupacken und wegzutun. Ich blickte mich im Spiegel an: meine Augen waren vollkommen leer, zum erstenmal brauchte ich sie nicht, indem ich mich eine halbe Stunde lang anblickte und Gesichtsgymnastik trieb, zu leeren. Es war das Gesicht eines Selbstmörders, und als ich anfing, mich zu schminken, war mein Gesicht das Gesicht eines Toten. Ich schmierte mir Vaseline übers Gesicht und riß eine halb eingetrocknete Tube weißer Schminke auf, quetschte heraus, was noch drin war, und schminkte mich vollkommen weiß: kein Strich schwarz, kein Tupfer rot, alles weiß, auch die Brauen überschminkt; mein Haar sah darüber wie eine Perücke aus, mein ungeschminkter Mund dunkel, fast blau, die Augen, hellblau wie ein steinerner Himmel, so leer wie die eines Kardinals, der sich nicht eingesteht, daß er den Glauben längst verloren hat. Ich hatte nicht einmal Angst vor mir. Mit diesem Gesicht konnte ich Karriere machen, konnte sogar an der Sache Heuchelei begehen, die mir in all ihrer Hilflosigkeit, in ihrer Dummheit, die relativ
    sympathischste war: die Sache, an die Edgar Wieneken
    glaubte. Diese Sache würde wenigstens nicht schmecken, sie war in ihrer Geschmacklosigkeit die ehrlichste unter den unehrlichen, das kleinste der kleineren Übel. Es gab also außer Schwarz, Dunkelbraun und Blau noch eine Alternative, die Rot zu nennen, wieder zu euphemistisch und zu optimistisch wäre, es war Grau mit einem sanften Schimmer von Morgenrot drin. Eine traurige Farbe für eine traurige Sache, in der vielleicht sogar Platz für einen Clown war, der sich der schlimmsten aller Clownssünden schuldig gemacht hatte: Mitleid zu erregen. Das Schlimme war nur: Edgar konnte ich am allerwenigsten betrügen, ihm am wenigsten etwas vorheucheln. Ich war der einzige Zeuge dafür, daß er die hundert Meter wirklich in 10,1 gelaufen war, und er war einer der wenigen, die mich immer so genommen hatten, wie ich war, denen ich immer so erschienen war, wie ich war. Und er hatte keinen Glauben als den an bestimmte Menschen - die anderen glaubten ja an mehr als an die Menschen: an Gott, an abstraktes Geld, an etwas wie Staat und Deutschland. Edgar nicht. Es war schon schlimm genug für ihn gewesen, als ich damals das Taxi nahm. Es tat mir jetzt leid, ich hätte es ihm erklären müssen, niemand sonst war ich irgendwelche Erklärungen schuldig. Ich ging vom Spiegel weg; es gefiel mir zu gut, was ich dort sah, ich dachte keinen Augenblick daran, daß ich selbst es war, den ich sah. Das war kein Clown mehr, ein Toter, der einen Toten spielte.
    Ich humpelte in unser Schlafzimmer hinüber, das ich noch nicht betreten hatte, aus Angst vor Maries Kleidern. Die meisten Kleider habe ich selbst ihr gekauft, sogar die Änderungen mit den Schneiderinnen besprochen. Sie kann fast alle Farben tragen außer Rot und Schwarz, sie kann sogar Grau tragen, ohne langweilig auszusehen, Rosa steht ihr sehr gut und Grün. Ich könnte in der Branche Damenmode wahr- scheinlich Geld verdienen, aber für einen, der monogam und nicht schwul ist, wäre das eine zu fürchterliche Tortur. Die meisten Männer geben ihren Frauen einfach
    Verrechnungsschecks und empfehlen ihnen, sich dem »Diktat der
    Mode« zu beugen. Wenn dann Violett modern ist, tragen alle diese Frauen, die mit Verrechnungsschecks gefüttert werden, Violett, und wenn dann auf einer Party sämtliche Frauen, die »etwas auf sich halten«, in Violett herumlaufen, sieht das ganze aus wie eine Generalversammlung mühsam zum Leben erweckter weiblicher Bischöfe. Es gibt nur wenige Frauen, denen Violett steht. Marie konnte gut Violett tragen. Als ich noch zu Hause war, kam plötzlich die Sackmode auf, und alle armen Hühner, denen ihre Männer befehlen, sich

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