Ansichten eines Hausschweins - Neue Geschichten ueber alte Probleme
Strandbad Wannsee
Was war 1983 für ein Jahr? In den USA regierte Ronald Reagan. In der Sowjetunion war Juri Andropow als Nachfolger von Breschnew am Ruder. Björn Borg beendete seine Tenniskarriere, die Grünen kamen zum ersten Mal in den Bundestag. Viele erfuhren zum ersten Mal von einer neuen Krankheit, die Aids hieß. In Bonn demonstrierten Tausende gegen den Nato-Doppelbeschluss, in der DDR traf Honecker den Bayern Strauß. Felix Magath war Stürmer beim HSV und schoss das Siegtor im Finale der Champions League, die damals noch anders hieß, der Gegner war Juventus Turin.
Lange her. Aber was heißt schon lange? Am Kölner Dom wurde von 1248 an 632 Jahre lang gebaut, nun, das ist ganz sicher lange.
In späteren Jahrhunderten ging so etwas schneller – Schloss Neuschwanstein, ebenfalls ein kompliziertes und extrem teures Bauwerk, entstand in lediglich siebzehn Jahren, der sehr schwierige Gotthardtunnel in elf Jahren. Für den Tunnel durch den Ärmelkanal wurden nur sieben Jahre benötigt. Der Petronas Tower in Kuala Lumpur, 452 Meter hoch – sechs Jahre!
Das Phänomen der Beschleunigung gibt es nicht nur im Kapitalismus. Am Gendarmenmarkt, der damals anders hieß, weihte die DDR -Staatsführung 1983 den originalgetreu wieder aufgebauten Französischen Dom ein, Bauzeit sechs Jahre.
Was extreme Bauzeiten in der Gegenwart betrifft, galt bisher das Kernkraftwerk Angra II in Brasilien als Rekordhalter, errichtet von 1975 bis 2000. Seit einiger Zeit gibt es einen neuen Champion. Berlin kann einen weiteren Superlativ aufweisen. Seit 1983, seit fast dreißig Jahren, wird das Strandbad Wannsee saniert. Es handelt sich um die längsten Sanierungsarbeiten, die weltweit je an einem Bad ausgeführt worden sind. Selbst die Restaurierung der altrömischen Bäder von Pompeij, die sich in einem lausigen Zustand befanden, ging rascher vonstatten.
Strandbad Wannsee – ein Generationenprojekt, vergleichbar mit der Verlegung des Tempels von Abu Simbel, welche allerdings in vier Jahren absolviert wurde.
Angestoßen wurde die Sanierung des Freibads unter den Regierenden Bürgermeistern Klaus Schütz und Dietrich Stobbe. In der kurzen Regierungszeit von Hans-Jochen Vogel scheint das Projekt geruht zu haben, um dann unter Richard von Weizsäcker um so energischer in Angriff genommen zu werden. Eberhard Diepgen, Walter Momper und jetzt Klaus Wowereit haben ihre gesamte Amtszeit hindurch unermüdlich am Wiederaufbau der Duschen, an der Reparatur der Toiletten und an der Suche nach einem Restaurantpächter des Bades gewirkt, so dass man bald, zum dreißigjährigen Jubiläum, ohne Übertreibung wird feststellen dürfen, dass ein Teil der Sanierungsarbeiten geschafft wurde. Es bleibt aber noch viel zu tun.
Über Berlin und die S-Bahn
Ein paar Jahre lang sah es beinahe so aus, als ob Berlin, die alte Skandalnudel, eine normale Großstadt geworden wäre. Aber die Geschichte hält für Berlin immer wieder heroische Momente bereit. Denn dass in einer europäischen Millionenstadt der öffentliche Nahverkehr zusammenbricht, nicht etwa infolge von Streik oder Krieg, sondern einfach nur durch Missmanagement, so etwas kommt, historisch gesehen, ähnlich selten vor wie die Teilung einer Millionenstadt durch eine Mauer.
Die Süddeutsche Zeitung spricht von »indischen Verhältnissen«, die im Berliner Nahverkehr herrschen.
1945, bei der letzten vergleichbaren S-Bahn-Krise, verkehrten die Züge bis zum 25. April, wenige Tage vor der Kapitulation, trotz ständiger Luftangriffe und trotz Artilleriebeschuss. Am 25. April 1945 waren 75 Prozent der Wagen wegen der Russen nicht mehr funktionsfähig. In der S-Bahn-Krise des Jahres 2009 waren 70 Prozent der Wagen wegen des Managements nicht mehr funktionsfähig. Das heißt, die Auswirkungen des ehemaligen Bahnchefs Mehdorn auf den Berliner Nahverkehr sind, rein quantitativ, durchaus mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs zu vergleichen. Denn im Hintergrund der S-Bahn-Katastrophe standen ja die Pläne Mehdorns, die Bahn durch rücksichtslosen Kampf bis zum letzten Fahrgast hochprofitabel zu machen. Unsere Radsatzwellen brechen, unsere Börsenpläne nie! Alle Räder stehen still, weil Mehdorn an die Börse will.
Besonders faszinierend ist der Gedanke, dass Berlin, obwohl extrem verschuldet, die S-Bahn mit hohen Millionenbeträgen aus Steuermitteln subventioniert, während die S-Bahn gleichzeitig Gewinne an ihren Mutterkonzern überwiesen hat. Was wird eigentlich aus diesem Steuergeld? Ist
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