Anziehungskraft: Stil kennt keine Größe (German Edition)
»Na, Sie sind ja eine Nummer«. »Wissen Sie«, sagte sie, »ich bin 86 Jahre alt. Ich habe schon in Fliegern geraucht, da hat Marlene Dietrich noch nicht einmal gewusst, ob sie aus den USA zurückkommt.«
Sie trug einen beigen Hosenanzug, sehr grade geschnitten, einen schmalen Kaschmirpullover, deren Ärmel ihre Handrücken fast vollständig bedeckten. Ihre Hand zierte ein großer Siegelring mit einem dunkelgrünen, in Gold gefassten Turmalin. Meinem Lieblingsstein! Sie trug ihr Haar kurz und grau, hatte blasse Wangen und ihre Augenbrauen waren so markant wie die eines Mannes. Das Lippenrot war von jener Intensität, dass Falten auf dem 86-jährigen Gesicht keine Chance mehr hatten, beachtet zu werden. »Turmalin?«, fragte ich. »Geschichte dazu?«, gab sie zurück. »Von Herzen gern«, erwiderte ich und dankte kurz dem Himmel für diese Reisebegleitung.
Ich muss vielleicht noch kurz erwähnen, dass ich ein wirklich kognitives Verhältnis zum Fliegen und dem zugehörigen Durch-die-Luft-Schweben habe. Ich fliege nicht sehr gerne, nutze jedoch pausenlos eben jenes Fluggerät und muss deswegen ständig meine aufkommende Flugangst bekämpfen. Sobald etwas Gescheites neben mir Platz genommen hat, werde ich ruhig. Dummheit und Erkältungskrankheiten sind mir dagegen ein Gräuel und verstärken meine Not noch! Es gibt eine kleine Angewohnheit. Seit dem ersten Flug vor vielen, vielen Jahren behalte ich den Abschnitt meiner Bordkarte den ganzen Flug über in der Hand. Nach erfolgreicher Landung schreibe ich kleine Notizen auf den kleinen Transportabschnitt: »Ganz gut«, »Keine Turbulenzen« oder »Nie mehr im Herbst«, »Kind hinter mir erbrochen«, »Tröpfcheninfektion möglich«, »Pillender Pullover«, »Gutes Gespräch mit Frau mit Akne rechts neben mir, braucht dringend Behandlung«. Und so weiter.
Einmal im Monat lege ich alle gesammelten Abschnitte in ein Kästchen – es sind mittlerweile Hunderte. Alle jetzt alarmierten Psychologen: Bitte zurücklehnen! Solange ich fliege, werde ich mich an diesen Abschnitten festhalten. Sollte das papierlose Bordkartensystem irgendwann die Oberhand gewinnen, habe ich ein Problem und melde mich umgehend zur Behandlung.
Die hauchdünne Zigarette der Marke »Eve« blieb unangezündet. Es gab in der Hermès-Handtasche der Walküre kein Streichholz mehr, also konnte sie die mitgebrachte Papierfeile auch nicht als Zündhilfe missbrauchen. Schade eigentlich. Es hielt die Dame aber nicht davon ab, die Zigarette, wie ich meinen Sitzplatzabschnitt, den gesamten Flug festzuhalten. Sie rauchte sie einfach trocken. Die Walküre und ich – eine Sekundenfreundschaft. »Lang lebe die Blitzsympathie«, sagte ich und wurde mit einem Kuss und einem lauten sonoren Lachen belohnt.
»War es schwierig für Sie, in Ihrem Leben das Passende zum Anziehen zu finden?«, fragte ich. »Sie sind vom Fach«, war ihre Antwort und sie erzählte von den vielen Versuchen, in ihrer Konfektion das Passende für ihre Figur zu finden. »Ich habe mich für streng entschieden. ›Mädchen‹ sollen die anderen machen«, sagte sie. Dabei drehte sie den Turmalin und erzählte aus ihrem Leben.
In den späten Kriegsjahren war ein sicheres Leben in Berlin einfach nicht mehr gewährleistet. Also wurde sie zu Danièle, einer Jugendfreundin ihrer Mutter, in einen Vorort von Paris verfrachtet. Bei ihrer Ankunft in Paris war sie eine junge Frau und kannte niemanden, nicht einmal besagte Jugendfreundin ihrer Mutter. »Jeder erwartete ein kleines, zartes Mädchen«, sagte sie. »Die Enttäuschung über eine Große, Stattliche ist immer die gleiche: Die kann sich selber retten, verstecken unmöglich!« Die geschilderte Geschichte war so einzigartig und wunderbar, dass sie gut zu unserer Reise über den Wolken passte. Ich bin in solchen Momenten so glücklich, mit Offenheit gesegnet zu sein, danke!
Die Freundin der Mutter lebte allein in einem großen Haus in einem Pariser Vorort und hatte, außer ihrem Sohn, niemanden mehr. Der gute Junge war von ihr aber schon nach Buenos Aires verfrachtet worden, weit weg von den Kriegswirren in Europa. »Das Erste, was sie zu mir sagte, war: ›Herzlich willkommen! Du bist ja wunderbar groß, siehst aber unmöglich aus und brauchst dringend etwas Mode. Hat dir denn in Deutschland niemand beigebracht, dich gut anzuziehen? Sobald mein Sohn aus Argentinien zurück ist, wirst du ihn heiraten.‹« »Abgemacht«, war das erste Wort, was sie an die Freundin der Mutter richtete. Es entstand
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