Anziehungskraft: Stil kennt keine Größe (German Edition)
unterwürfig zu ihrem Mann, »mir gefällt diese Hose sehr. Mein Hintern war doch immer schon mein Problem, aber er ist nun mal da. Herr Kretschmer und ich möchten ihn jetzt nicht mehr verstecken und deshalb habe ich mich für eine enge Hose entschieden. Mein Traum ist seit Jahren: einmal eine schmale Hose in High Heels, eine kurze Jacke – und alles in Feuerrot!« »Das kann ich so nicht akzeptieren, meine Liebe«, sagte er. »Reiß dich endlich zusammen! Du solltest etwas mehr gehen, als dich gehen zu lassen. Trainiere täglich dein Hinterteil, anstatt sich den lieben langen Tag auf selbigem auszuruhen. Schaue dich doch einmal an: Wer könnte glauben, dass du die Frau eines Marathonläufers bist?«
Zu diesem Zeitpunkt gab es für mich drei Möglichkeiten. Erstens: den Gatten des Ateliers zu verweisen. Zweitens: »Frau Meisenkayser« tröstend in den Arm zu nehmen. Und drittens: einen fähigen Scheidungsanwalt kontaktieren, der den Gatten umgehend fühlen lässt, was eine breite Hüfte mit Unterstützung alles erstreiten kann. Aber es war IHR Tag, IHRE Hose, IHR Leben, IHRE Ehe, IHRE Scham und vor allem IHRE Anprobe.
Die Hose fand auch leider kein Erbarmen, als ein Blazer und eine Seidenbluse ein zufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht zauberten. Es gibt diesen Blick, dieses Sich-über-die-Taille-Streicheln, eine halbe Drehung, ein Schritt zurück, dann wieder nach vorn – die Schrittfolge einer Anprobe. Die Choreografie der Mode. Ohne Laufsteg. Ohne Models. Es ist das Ankommen eines Looks in der realen Welt. Wenn eine Kundin zu einer sich wohlfühlenden Frau, einer Verbündeten wird und Kleidung in Schränke und Herzen der Trägerinnen einzieht, dann hat ein Designer sich darauf einzustellen, dass er von seinen Kleidern Abschied nehmen muss. Ein kleines Gläschen Champagner konnte den bevorstehenden Umzug in ihren Kleiderschrank nicht erleichtern, da der gute Gatte das angebotene Getränk als Bestechungsversuch deutete. »Bitte behalte einen klaren Kopf«, raunzte er seine Gattin an. Er sei schließlich nicht zum Vergnügen hier. »Sie können mir glauben, als Staatsanwalt habe ich schon geistreicheren Bestechungsversuchen widerstanden, Herr Kretschmer.« Vom Designer zum Verdächtigen und von der Ehefrau zur Belastungszeugin liegt manchmal nur eine Naht – in unserem Fall die einer engen, roten Hose.
Meine immer leicht missmutige Direktrice hätte am liebsten beide Gläser Champagner auf ex gekippt. Sie hätte das nachtblaue Seidenkleid, statt es »Frau Meisenkayser« zur Anprobe zu reichen, lieber dem Gatten um den Hals gelegt und fest zugezogen. Stattdessen sagte sie in ihrer spröden Art und ihrem zauberhaften Akzent: »Derrr Kaukassssssuuuss rrruft, pielleicht noch blaues Kleid probiiiierrrren, gnädiges Frrrrau?« Der Gatte hatte natürlich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung davon, dass die zukünftige Täterin meine zutiefst verletzte Direktrice war, die jede Kritik an unseren Modellen uneingeschränkt persönlich nahm. Als dann unsere Kundin in einem Traum-Abendkleid aus der Kabine trat, konnte selbst der unleidliche Disputant für einen kurzen Moment nicht reagieren. »Wunderbar«, hauchte sie, »wie haben Sie es nur geschafft, dass ich aussehe wie eine Göttin? Wo sind meine Reiterhosen geblieben?« Ich fasste ihre Hand und sagte: »Sie sehen zauberhaft aus – vergessen Sie mal Reiterhose und Hüfte und genießen Sie den Anblick!« »Es ist eine Unverschämtheit, meiner Frau zu unterstellen, sie habe ihren dicken Hintern vom Reiten! Sie hat mit Pferden nichts am Hut, Herr Designer«, schrie er mich an. »Wie bitte?«, dachte ich und war kurz vor einem Lachanfall, als der Gatte auf die Knie sackte, sich bäuchlings auf den Boden legte und seiner Frau befahl: »Dreh dich langsam, auf der Stelle!« Die Aufforderung, doch bitte wieder in die Vertikale zu wechseln, wurde selbstredend ignoriert. »Der Saum ist unregelmäßig, wir reden hier von mindestens einem Zentimeter Differenz«, klagte er an. Zu unserer Verteidigung muss ich jetzt vielleicht erklären, dass alle unsere Säume zur ersten Anprobe offen sind und bei uns erst nach Aufnahme des Tatbestands (Körperlänge und Absatzhöhe) auf den geraden Saum geschworen wird. Sollte ich jetzt glauben, dass der »Arsch« seiner Frau der Grund für diese Indifferenz sei, könne er mir jetzt schon versichern, dass er das nicht akzeptiere und einen erheblichen Rabatt verlange. »Nein«, sagte meine Direktrice mit fester Stimme: »Der Arrrrsch liegt gerrrrade auf
Weitere Kostenlose Bücher