Arschloch!
Arbeitsplatz bin, winkt Daniela mich zu sich. Sie bietet mir einen Sitzplatz an und ich setze mich rittlings auf den Drehstuhl. Sie hat - genau wie ich an meinem Computer - ein kleines Fenster geöffnet, in dem sie sehen kann, welche Bekannten gerade online sind.
„Du chattest während der Arbeit?“, sage ich und entdecke ihren Chatnamen. Sie heißt >honey rider<.
„Ja, ähm, wieso?“
„Dann lass dich bloß nicht erwischen!“
„Ich pass schon auf! Aber verrat mich nicht!“
„Quatsch!“, sage ich und schüttele den Kopf. „Mach dir keine Sorgen. Ich glaube das macht hier jeder.“
Daniela öffnet ein weiteres Browserfenster per Doppelklick, dann tippt sie eine Adresse ein und sagt: „Ich zeig‘ dir mal was!“
Einen kurzen Moment später zeigt sie mir das Profil eines Mitglieds, das sich >mayday< nennt. Ich werfe einen Blick auf das Foto, das in dem Profil abgespeichert ist und erkenne darauf meine Abteilungsleiterin.
„Anne Weißer?“
„Ja. Und jetzt lies dir mal das Profil durch“, sagt Daniela. Sie nimmt ihre Tasse Tee in die Hand, überfliegt die Zeilen und kann sich vor Lachen kaum auf ihrem Drehstuhl halten.
Da mein Telefon klingelt, muss ich zurück an meinen Platz, aber gleich nach dem Kundengespräch nehme ich Annes Profil etwas genauer unter die Lupe. Es dauert nicht lange, bis ich alles gelesen habe. Ich logge mich aus und fahre langsam mit den schriftlichen Bestellungen fort. Bis Feierabend habe ich knapp die Hälfte des Stapels abgearbeitet. Die andere Hälfte jage ich durch den Aktenvernichter. Dann kann sie auch kein anderer verkaufen. Plötzlich steht Michael Weise, der irgendetwas von Johnny Depp hat, an meinem Arbeitsplatz.
„Hi Moritz!“
„Michael, was geht so bei dir? Wie war dein Urlaub?“, frage ich und reiche ihm meine Hand.
„War super.“
„Cool. Und wie war es in Bolivien?“
„Bolivien? Ich war in Brasilien!“
„Ach so! Und wie war‘s?“
„Klasse! Es war super, echt. Die Leute waren alle so nett! Und gutes Wetter.“ ... Ach ja, gutes Wetter.
Nach einer kurzen Pause sagt er: „Kann ich noch eine Kippe von dir haben?“
„Ich habe leider keine mehr. Die Schachtel ist leer“, sage ich und werfe die Zigarettenschachtel, die sich auf meinem Schreibtisch befindet, in den Mülleimer.
„Naja, kann man nichts machen.“
Kurz danach verabschiedet er sich von mir und verschwindet aus dem Callcenter. Ich packe meine Sachen, hole die Zigarettenschachtel, die noch fast voll ist, aus dem Mülleimer und mache mich auf den Weg in die Stadt. Es gilt zwei Sachen zu erledigen: Ich muss zum Friseur, meine Haare sollen stufig geschnitten und die blonden Strähnen durch Schwarze ersetzt werden, zu Jahresbeginn muss ein neuer Look her und außerdem möchte ich zu einer Tierhandlung und mir ein kleines Haustier zulegen. Ein Kaninchen oder ein Meerschweinchen oder einen Hamster oder ähnliches, ganz genau weiß ich es noch nicht. Jedenfalls hätte ich gerne ein Tier mit dem ich mich ein bisschen beschäftigen kann. Ich kenne das ja noch von früher und ich habe mich schon lange nicht mehr um ein Tier gekümmert. Früher hat es immer viel Spaß gemacht und vielleicht hilft es gegen die Langeweile. Damit mache ich was für das Heimkino.
07.01.2005
Susan Stahnke, mein neues Meerschweinchen, hat die letzten Tage ohne Nahrung im Kühlschrank verbracht. Sie fiept, als ich den Karton anhebe und ihn auf den Küchentisch stelle. Ich ziehe mir Lederhandschuhe über, stelle meine Kamera auf und filme, wie ich den Karton öffne und ihr die Freiheit schenke. Langsam tritt sie aus dem Karton und läuft schnuppernd über meinen Tisch. Ich schnappe mir meine Kamera und mache mehrere Schwenks über sie hinweg, fast so als würde ich in einem Helikopter sitzen und über eine rennende Büffelherde fliegen. Nach mehreren Runden wie ein Geier über seiner Beute, stoppe ich die Aufnahme und wähle einen anderen Blickwinkel. Die Bodenperspektive, in der ich mir vorkomme wie Heinz Sielmann. Susan entdeckt die Kamera und ich filme sie dabei wie sie an meinem Objektiv schnüffelt, aber nach kurzer Zeit das Interesse verliert und rechts aus dem Bild verschwindet. Ich locke sie mit ein paar Kellogg‘s Smacks auf ein Küchenbrett und als sie auf dem Brettchen ist, halte ich es an die Luke meiner Waschmaschine. Mit der anderen Hand filme ich das Geschehen. Susan tastet sich langsam voran. Sie sucht rechts und links nach einem Ausweg. Da ist der Boden, etwa 50 Zentimeter unter ihr. Nach
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