Hochzeit im Herrenhaus
1. KAPITEL
E s dauerte eine volle Minute, bis Miss Annis Milbank sich hinreichend von dem Schock erholt hatte, um zu rufen: “O Tante, wieso glaubst du, ich könnte dir diesen Dienst erweisen? Wenn ich mich auch um Manieren bemühe, die meiner lieben Mama gefallen hätten – manchmal äußere ich meine Meinung ganz furchtbar freimütig. Also eigne ich mich wohl kaum zur Vermittlerin, schon gar nicht in einer so heiklen Angelegenheit.”
Mit einem sanften Lächeln betrachtete Lady Pelham das reizvolle, von dichten rötlich braunen Locken umrahmte Gesicht ihrer Patentochter. Gewiss, Annis’ Verhalten war manchmal etwas unkonventionell, und einige Leute fanden sie viel zu selbstbewusst. Aber sie hatte das warmherzige Wesen ihrer Mutter geerbt, zudem die Tatkraft und Vernunft ihres Vaters. Diese bewundernswerten Eigenschaften, verbunden mit mutwilligem Charme, befähigten sie durchaus, den Auftrag auszuführen. “Da irrst du dich, meine Liebe. In diesem Fall wird sich deine Neigung, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, sogar vorteilhaft auswirken.”
Skeptisch hob Annis die schön geschwungenen Brauen. “Wenn der gegenwärtige Viscount Greythorpe im Charakter seinem Vorgänger gleicht – würde er sich überhaupt anhören, was ich zu sagen hätte?”
“Um ehrlich zu sein, Kindchen, ich kenne den derzeitigen Träger des Titels kaum”, seufzte Lady Pelham. Müde stand sie auf und trat ans Fenster. “Da gehen die Meinungen auseinander. Wie ich gehört habe, soll er seinem gefühlskalten, unnahbaren verstorbenen Vater gleichen. Aber er wird auch ganz anders eingeschätzt. Ich persönlich möchte mich vorurteilsfrei zeigen.” Als sie sich zu ihrer Patentochter umdrehte, nahm ihr Gesicht einen ernsten Ausdruck an. “Du darfst nicht glauben, es würde mir leichtfallen, dich darum zu ersuchen. Könnte ich mich an eine Verwandte oder eine Freundin hier in Bath wenden, hätte ich dir niemals diesen melodramatischen Brief geschrieben und dich um deinen unverzüglichen Besuch gebeten. Sicher warst du beunruhigt, weil ich keine Erklärung abgegeben habe.”
Diese krasse Untertreibung entlockte Annis ein Lächeln. Sobald sie das Schreiben erhalten hatte, war sie in aller Eile in eine gemietete Postkutsche gestiegen. Die Reise von ihrem Heim in Leicestershire nach Bath dauerte nicht lange. Trotzdem fand sie Zeit genug, um sich das Allerschlimmste vorzustellen.
Bei ihrer Ankunft vor einer knappen halben Stunde hatte sie halb und halb erwartet, ein Dienstbote würde ihr mitteilen, die Patentante sei schwer erkrankt oder Helen, die Nichte Ihrer Ladyschaft, habe ein grausiges Schicksal erlitten. Niemals hätte sie vermutet, sie sollte als Vermittlerin agieren. In solchen Dingen war sie völlig unerfahren.
“Vielleicht habe ich dich nicht richtig verstanden, Tante”, gab sie zu. “Du hast mir erzählt, du seist von Lord Greythorpe eingeladen worden, zusammen mit deiner Nichte, die seine Halbschwester ist, ein paar Wochen auf dem Landsitz der Familie in Hampshire zu verbringen, wovon Helen nicht sonderlich begeistert ist.” Unfähig, ein Lächeln zu unterdrücken, fügte sie hinzu: “Nun, das kann ich ihr nachfühlen. Immerhin meistert sie ihr Leben, auch ohne von den Verwandten ihres verstorbenen Vaters anerkannt zu werden.”
“Helen ist der Familie Greythorpe nicht feindlich gesinnt.” Nachdenklich musterte Lady Pelham ihr Patenkind, bevor sie wieder Platz nahm. “Während dein Groll auf die Angehörigen deiner Mutter im Lauf der Jahre gewachsen zu sein scheint, Liebes.”
Über dieses unangenehme Thema wollte Annis nicht reden, was die Tante verständnisvoll berücksichtigte.
“Jedenfalls habe ich deine Mama stets bewundert”, fuhr Lady Pelham fort. “Im Gegensatz zu meiner verstorbenen Schwester und mir war sie charakterstark genug, um sich den Anordnungen ihrer Familie zu widersetzen und den Mann ihrer Wahl zu heiraten. Wie anders wäre Charlottes und mein Leben verlaufen, hätten wir den gleichen Mut aufgebracht!”
Annis wusste Bescheid über diese unglücklichen Ehen, die von begrenzter Dauer gewesen waren. Trotzdem fühlte sie sich bemüßigt, eine wichtige Frage zu stellen.
“Dass der sechste Viscount Greythorpe Helens Vater war, habe ich niemals bezweifelt”, antwortete Lady Pelham ohne Zögern. “Das Verhalten meiner Schwester mag unklug gewesen sein, aber unter den Umständen begreiflich. An diesen zynischen, kaltherzigen, wesentlich älteren Mann gebunden, fand sie natürlich Gefallen an der
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