Arthur & George
lang nichts mehr zuschulden kommen lässt, weil man noch an den Tolley denkt, das ist doch Unsinn, nicht wahr?«
»Nicht, wenn es wirkt.«
»Aber in ein, zwei Jahren sind wir dieser Anstalt entronnen. Dann gibt es keinen Tolley mehr. Wir müssen gerüstet sein, der Sünde und dem Verbrechen aus Vernunftgründen zu widerstehen, nicht aus Angst vor körperlichem Schmerz.«
»Ich bezweifle, dass Vernunftgründe bei einigen Jungen etwas bewirken.«
»Dann muss unbedingt der Tolley her. Und für die Außenwelt gilt dasselbe. Natürlich sind Gefängnisse und Zwangsarbeit und Henker nötig.«
»Aber wovon wird die Kirche denn bedroht? Mir erscheint sie stark.«
»Von der Wissenschaft. Von der Ausbreitung der Lehren des Skeptizismus. Vom Verlust des Kirchenstaates. Vom Verlust an politischem Einfluss. Von dem herannahenden zwanzigsten Jahrhundert.«
»Dem zwanzigsten Jahrhundert.« Darüber sann Arthur eine Weile nach. »So weit kann ich nicht denken. Wenn das nächste Jahrhundert beginnt, bin ich schon vierzig.«
»Und Kapitän der englischen Cricket-Mannschaft.«
»Da habe ich meine Zweifel, Partridge. Aber jedenfalls kein Priester.«
Arthur nahm nicht bewusst wahr, wie sein Glaube nachließ. Doch von eigenständigem Denken innerhalb der Kirche war es nur ein kleiner Schritt zu eigenständigem Denken außerhalb der Kirche. Er stellte fest, dass sein Verstand und sein Gewissen nicht immer akzeptieren konnten, was ihnen vorgesetzt wurde. In Arthurs letztem Schuljahr hielt Pater Murphy die Predigten. Grimmig und rotgesichtig stand er hoch oben auf der Kanzel und drohte allen, die der Kirche fernblieben, sichere und unausweichliche Verdammnis an. Ob sie sich aus Bosheit, Halsstarrigkeit oder bloßer Unwissenheit abseits hielten, es lief auf dasselbe hinaus: sichere und unausweichliche Verdammnis bis in alle Ewigkeit. Dann folgte eine eingehende Schilderung von Höllenqualen und Höllenpein, eigens dazu geschaffen, Jungen in Angst und Schrecken zu versetzen; doch Arthur hörte bereits nicht mehr zu. Die Mama hatte ihm gesagt, wie es sich verhielt, und Pater Murphy war für ihn nun ein Märchenerzähler, dem er keinen Glauben mehr schenkte.
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George
Die Mutter hält die Sonntagsschule in dem Gebäude neben dem Pfarrhaus ab. Das Mauerwerk hat ein Rautenmuster, und die Mutter sagt, es sehe fast aus wie ein Mosaik. Dieses Wort versteht George nicht, vermutet aber, es habe etwas mit Moses aus der Bibel zu tun. Auf die Sonntagsschule freut er sich die ganze Woche. Die ruppigen Jungen nehmen nicht daran teil: Sie rennen wild durch die Felder, stellen Kaninchen nach, erzählen Lügen und begeben sich überhaupt auf den Blumenpfad der Lust, der geradewegs in die immerwährende Verdammnis führt. Die Mutter hat ihm erklärt, sie werde ihn in der Sonntagsschule ganz genauso behandeln wie alle anderen auch. George kann das verstehen: Sie weist ihnen allen – gleichermaßen – den Weg in den Himmel.
Sie erzählt ihnen spannende Geschichten, denen George leicht folgen kann: von Daniel in der Löwengrube oder von den drei Männern im Feuerofen. Andere Geschichten aber sind schwieriger. Jesus lehrte in Gleichnissen, und George stellt fest, dass er Gleichnisse nicht mag. Zum Beispiel das vom Unkraut im Weizen. George kann verstehen, dass der Feind Unkraut zwischen den Weizen sät und dass man das Unkraut nicht ausjäten soll, um nicht zugleich den Weizen mit auszuraufen – hier allerdings ist er sich nicht ganz sicher, denn er sieht seine Mutter oft im Pfarrgarten zupfen, und was ist das anderes als jäten, ehe das Unkraut mit dem Weizen gewachsen ist bis zur Ernte? Doch selbst wenn er über dieses Problem hinwegsieht, kommt er nicht weiter. Er weiß, dass es in der Geschichte eigentlich um etwas anderes geht – darum ist es ja ein Gleichnis –, doch was dieses andere sein könnte, will sich ihm nicht erschließen.
Er erzählt Horace von dem Weizen und dem Unkraut, doch Horace begreift nicht einmal, was Unkraut ist. Horace ist drei Jahre jünger als George und Maud drei Jahre jünger als Horace. Als Mädchen und jüngstes Kind ist Maud nicht so stark wie die beiden Jungen, die immer wieder gesagt bekommen, es sei ihre Pflicht, das Mädchen zu beschützen. Was das genau heißt, wird nicht näher erläutert; im Wesentlichen bedeutet es wohl, etwas nicht zu tun – die Schwester nicht mit Stöckchen zu stechen, nicht an den Haaren zu ziehen und nicht mit unheimlichen Lauten zu erschrecken, wie Horace das gerne tut.
Doch
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