Atlas eines ängstlichen Mannes
Mönche in einer viertausend Meter über dem Meeresspiegel und hoch über dem verschneiten Ufer eines Bergsees gelegenen Höhle im westlichen Himalaya. Der böige Wind hatte durch das offene Höhlenportal eine lange Schneezunge bis nahe an jenes Feuer geweht, an dem die Mönche dicht nebeneinander saßen und ihre Oberkörper im Rhythmus geflüsterter Gebetsformeln wiegten. Wenn sie in der Litanei der Wiederholungen eines Mantras endlich Atem holten, hörte man ihre Zähne vor Kälte klappern. Ihre Gesichter und Hände waren rußgeschwärzt, die schulterlangen Haare wirr und steif vom Ruß und das Rot ihrer Kutten unter einer schwärzlichen Schicht kaum noch erkennbar. Die drei waren noch keine zwanzig, vielleicht auch viel jünger, der Ruß ließ nur ungefähre Vermutungen zu. Die Höhle war so groß, daß selbst das Knacken brennender Äste hallend von den Felswänden zurückschlug. Solche Räume waren mit einem Feuer wie diesem nicht zu erwärmen.
Der See von Phoksundo und Ringmo, das Dorf an seinem Ufer, dessen Häuser vom Höhleneingang nur als eine Ansammlung verstreuer Schatten in der Tiefe erschienen, waren das Ziel eines erschöpfenden Weges, den ich an diesem Wintertag gemeinsam mit einem Freund durch tief verschneite oder unter dem Winddruck vereiste Steilhänge in ein froststarrendes Hochtal emporgestiegen war. Wir durchwanderten in diesen Wochen die Grenzregion zwischen Nepal und Tibet auf der Suche nach Klöstern und Einsiedeleien der uralten, dieses Gebirge lange vor dem Buddhismus beherrschenden Bön-Religion und fanden seit Tagen in den Hütten und Höhlen des Stammesfürstentums Dolpo Schutz vor dem Schnee. Aus den Tälern ringsum drang immer wieder das Donnern von Lawinen.
Die vergangene Nacht hatten wir in einem Lager von Halbnomaden verbracht, die in rußigen Steinhütten darauf warteten, daß der Frühling die Pässe freigeben und ihnen erlauben würde, mit ihren Yaks zu den großen Salzseen und Weiden Tibets weiterzuziehen. Nur noch einen Tagesmarsch vor uns, irgendwo in den Schneewolken, hatte man uns in diesem Lager gesagt, sollte der See von Phoksundo liegen und an seinem Ufer ein Dorf, auch ein Kloster. Bewohnt? oder verlassen? wie die meisten hochgelegenen Siedlungen um diese Jahreszeit – das wußten auch unsere Gastgeber nicht. Als am Vormittag hoch über jagenden Wolken ein sonnenbeschienener Gletscher wie ein schwebender Eisberg erschienen war, hatten wir das Lager verlassen und uns auf den Weg gemacht.
Im Tiefschnee unserer Route war jeder Weg unsichtbar. Mit unseren schweren Rucksäcken versanken wir bis an die Knie, manchmal bis an die Hüften im Schnee. Aber auch auf diesem Weg galt unsere Vereinbarung, daß jeder seinen Kräften gemäß steigen und stapfen sollte, solange kein Hindernis gemeinsame Anstrengungen erforderte oder in vereisten Felspassagen einer den anderen am Seil sichern mußte. Also stieg und stapfte bald jeder allein. Mein Freund war nach einer Stunde außer Sichtweite, erschien gelegentlich als kleiner werdende Gestalt hoch in den Steilhängen, verschwand schließlich in den Wolken.
Wenn ich innehielt, um Atem zu schöpfen, sah ich die Serpentinen unserer verwehenden Spur, die sich hinter mir in einer bläulichen Tiefe verlor. Die Fetzen einer zerreißenden Schlechtwetterfront trieben über meinem Kopf und zu meinen Füßen dahin.
Die Spur meines Freundes führte am Fuß einer mit den Glasschleiern gefrorener Wasserfälle verhängten Felswand immer steiler nach oben und endlich zum Eingang eines flacheren, von Tränenkiefern bewachsenen Hochtales, das zwischen ragenden Bergkämmen wie zwischen Staumauern lag.
Wie still und verheißungsvoll und immer noch fern der See von Phoksundo, unser Ziel, nach Stunden endlich im Talschluß erschien: Ein schwarzgrüner Spiegel, der das Bild verschneiter Gebirgszüge in einen schon abendlichen Himmel zurückwarf und nur eine Gruppe blutroter Häuser an seinem Ufer behielt: mit Gebetsfahnen geschmückte Pagodendächer, über denen noch leichtere, noch schönere Fahnen wehten – Rauch! Dorf und Kloster von Phoksundo waren bewohnt! Ich sah Rauchfahnen über jedem Gebäude am See.
Es sollte noch fast eine Stunde dauern, bis ich die Uferhügel endlich erreichte. Aber die ersten Häuser, an die ich kam, waren die Häuser von Toten – Reliquienschreine, Tschorten, die nur die Asche verbrannter Heiliger und Mönche, den Staub der Seelenwanderung, bewahrten. Zwischen diesen Schreinen entdeckte ich meinen Freund damit
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