Atlas eines ängstlichen Mannes
in der Ferne begonnen hatte.
Seine Mutter, sagte der dünne Mann, sei vor vier Jahren nach ärztlichem Befund zwar an einer Blutvergiftung gestorben, in Wahrheit aber wohl verhungert. Jahrelang habe sie fast alles, was sie zu sich nahm oder was der Vater sie bei seinen seltenen Besuchen zu essen zwang, heimlich wieder erbrochen. Manchmal habe er noch jetzt dieses Würgen im Ohr, das nach jeder Mahlzeit zu hören war, wenn er ihr durch einen engen dunklen Gang des Elternhauses auf Hanga Roa zur Toilette nachschlich.
Aber vielleicht sei dieses Hungern, sei dieses Fasten auch bloß der verzweifelte Versuch gewesen, sich vom Schicksal ihres Volkes zu lösen und sich in einen, ja,
Astralleib
, habe sie gesagt, in einen Astralleib zurückzuziehen, der endlich frei war von der unseligen Abhängigkeit von ein paar Bissen Brot. Denn wer nicht nach Brot hungerte, hatte auch keinen Hunger nach Feldern, Weidegründen, Macht, wollte niemanden beherrschen, niemanden töten, niemanden fressen. Vielleicht war es das, was die Moais sahen, wenn sie dem Pazifik, dem mächtigsten Element dieser Erde, den Rücken zukehrten, um allein ins Innere der Insel und ihren Bewohnern ins Herz zu blicken.
Und er, sagte der dünne Mann, er habe nach dem Tod seiner Mutter, ohne es zu wollen und zunächst auch ohne sich dessen bewußt zu sein, die Appetitlosigkeit wohl als Erbe übernommen und dadurch vielleicht ihren lebenslangen Traum erfüllt. Denn anders als sie, die manchmal doch der Freßgier erlegen war, wenn sie in den Nächten heimlich und schlaftrunken in der finsteren Küche in sich hineinschlang, was immer sie fand, dann aber doch jeden Bissen wieder erbrach, habe er alle Lust am Essen vielleicht für immer verloren.
Der dünne Mann umklammerte die Reling so fest, daß seine Fingerknöchel sich weiß abzeichneten. Als die Gischt seine Handrücken benetzte und glitzern ließ, erschien seine Haut so zart, ja gläsern wie die von feinsten Adern durchzogenen Netzflügel einer Florfliege.
Was habe denn näher gelegen, sagte er und schwankte vor und zurück, ohne den Handlauf loszulassen, als sich in Zeiten der Not, in Zeiten des Hungers auf den Weg in die Heimat des Gottes zu machen und um Beistand, um Erlösung von diesem allesfressenden Hunger zu bitten – auf den Weg nach
Manu Motu Motiro Hiva
, zur Insel, hinter der die Unendlichkeit begann? Wie viele Rapa Nui waren wohl auf dieser Wallfahrt verschwunden? Auch wenn sie es meisterhaft verstanden, nicht nur die Sterne, sondern auch das Relief und die Farbe der Wellen, die Strömungen, Windstärken, selbst die Ornamente des Vogelflugs in ihr navigatorisches Kalkül einzubeziehen, war es doch eine Fahrt auf einem Binsenfloß geblieben, auf einem Schilfbüschel!, bei einem Seegang wie diesem hier.
Rußseeschwalben, sagte der dünne Mann und zeigte auf stumme, möwenähnliche Vögel mit schwarzweißen Schwingen, die von einem kotbedeckten Felsturm aufgeflogen waren und unser Schiff neugierig umkreisten, Rußseeschwalben seien den Rapa Nui heilig gewesen. Mit ihrem Erscheinen begann der Frühling oder das, was auf der Osterinsel als Frühling gefeiert wurde. Das ganze Jahr, ja die Zeit selbst sei von diesen Vögeln sozusagen in Gang gesetzt worden. Vielleicht waren es auch die hier brütenden, geheiligten Rußseeschwalben gewesen, die zum Glauben geführt hatten, hier wohne ein Gott. War es nicht bemerkenswert, was für ein Leben es auf diesen vulkanischen Klippen gab, und bemerkenswert, welche wunderbaren Namen dieses Leben führte – Weihnachtssturmtaucher, Maskentölpel, Meerläufer, Feenseeschwalben … Sie alle brüteten hier.
Als der dünne Mann in die Brusttasche seines Hemdes griff und daraus ein von der Gischt getränktes Stück dunkles Brot hervorzog, glaubte ich, er würde versuchen, die Rußseeschwalben zu füttern, die hier, so weit draußen und fern aller nautischen Routen, vielleicht weder Menschen noch Schiffe kannten. Aber der dünne Mann führte das nasse Brot zum Mund und begann langsam, den Blick unverwandt auf die schwarze, auf und ab tanzende Insel gerichtet, zu essen.
Reviergesang
Ich sah eine ferne Gestalt vor einem verfallenen Wachturm jenes fast neuntausend Kilometer langen Verteidigungswalls, der im Land seiner Erbauer
Wanli Chang Cheng
–
Unvorstellbar lange Mauer
, vom Rest der Welt aber Chinesische Mauer genannt wird.
Am Morgen hatte es geschneit, und ich wanderte seit Stunden auf der Mauerkrone zwischen Simatai und Jinshanling in der Provinz Hebei
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