Diesseits vom Paradies
[11] I
Amory, Beatrice ’ Sohn
Amory Blaine glich in jeder Hinsicht seiner Mutter, außer in den wenigen unaussprechlichen Eigenschaften, die ihn interessant machten. Sein Vater, ein erfolgloser und sprachlich unbeholfener Mann mit einer Vorliebe für Byron und der Gewohnheit, über der Encyclopaedia Britannica einzunicken, kam mit dreißig Jahren durch den Tod zweier älterer Brüder, erfolgreicher Chicagoer Börsenmakler, zu Reichtum; im ersten Freudenrausch darüber, dass die Welt nun ihm gehörte, ging er nach Bar Harbor, wo er Beatrice O’Hara traf. Die Folge davon war, dass Stephen Blaine der Nachwelt seine Größe von knapp einem Meter achtzig und eine Neigung zur Unentschlossenheit im entscheidenden Augenblick hinterließ: Beide Anlagen machten sich auch bei seinem Sohn Amory bemerkbar. Viele Jahre hielt er sich in seiner Familie im Hintergrund, eine seltsam farblose Figur, das Gesicht halb verdeckt von schlaffem, seidenweichem Haar; ständig war er damit beschäftigt, für das Wohlergehen seiner Frau zu sorgen, ständig von der Vorstellung gequält, sie nicht zu verstehen und nicht verstehen zu können.
Beatrice Blaine dagegen – das war eine Frau! Frühe Fotografien, auf den Besitzungen ihres Vaters in Lake Geneva, Wisconsin, aufgenommen oder in der Klosterschule Sacro Cuore in Rom, einer erzieherischen Extravaganz, die in [12] ihrer Jugend nur den Töchtern außerordentlich reicher Eltern vorbehalten war, zeigten die erlesene Zartheit ihrer Gesichtszüge, ihre ausgesuchte, bei aller Raffinesse schlichte Garderobe. Eine glänzende Erziehung hatte sie genossen – ihre Jugend verbrachte sie im Glanz der Renaissance und war mit den neuesten Klatschgeschichten über die alteingesessenen römischen Familien bestens vertraut; ihr Ruf als märchenhaft reiches amerikanisches Mädchen verschaffte ihr die Ehre der Bekanntschaft mit Kardinal Vitori, Königin Margherita und anderen hochgestellten Persönlichkeiten, von denen auch nur gehört zu haben bereits eine gewisse Kultiviertheit voraussetzte. In England lernte sie, lieber Whisky-Soda statt Wein zu trinken, und eine Wintersaison in Wien erweiterte ihren Konversationsstoff in zweifacher Hinsicht. Alles in allem erhielt Beatrice O’Hara eine Art von Erziehung, wie es sie nie mehr geben wird: eine Bildung, die Menschen und Dinge ausschließlich danach beurteilte, ob man sie verachten oder sich für sie begeistern konnte; eine Kultur, reich an Künsten und Traditionen, aber arm an Ideen, am Ende jener Epoche, da der große Gärtner die minderwertigen Rosen abschnitt, um eine vollkommene Knospe hervorzubringen.
In einem weniger bedeutsamen Augenblick ihres Lebens kehrte sie nach Amerika zurück, begegnete Stephen Blaine und heiratete ihn; das tat sie nur deshalb, weil sie ein wenig müde war und ein wenig traurig. Ihr einziges Kind wurde in einer lästigen Schwangerschaft ausgetragen und kam an einem Frühlingstag des Jahres 1896 zur Welt.
Schon als Fünfjähriger war Amory ihr ein wunderbarer Begleiter. Er hatte kastanienbraunes Haar und bekam mit [13] zunehmendem Alter schöne große Augen, er steckte voller oberflächlicher, phantastischer Einfälle und hatte eine Vorliebe für hübsche Kleidung. Zwischen seinem vierten und zehnten Lebensjahr reiste er mit seiner Mutter im privaten Eisenbahnwaggon ihres Vaters kreuz und quer durch die Lande: von Coronado, wo sie sich derart langweilte, dass sie in einem vornehmen Hotel einen Nervenzusammenbruch erlitt, bis hinunter nach Mexico City, wo sie sich eine milde, anfallartig auftretende Tuberkulose zuzog. Sie genoss die Wirkungen, die sie damit erzielte, und bediente sich ihrer, bis die Anfälle schließlich untrennbar zu ihrem Leben gehörten – vor allem nach mehreren anregenden Schnäpsen.
So entging Amory dem mehr oder weniger glücklichen Schicksal reicher Sprösslinge, die am Strand von Newport ihre Gouvernanten tyrannisierten, verprügelt wurden, Privatunterricht erhielten oder Vorlesungen aus Do and Dare oder Frank on the Mississippi über sich ergehen lassen mussten; stattdessen biss er im Waldorf geduldige Hotelpagen, überwand allmählich seinen natürlichen Widerwillen gegen Kammermusik und Symphonien und genoss eine sehr spezielle Erziehung durch seine Mutter.
»Amory.«
»Ja, Beatrice.« (Was für ein eigenwilliger Name für seine Mutter; doch sie wollte das so.)
»Liebling, komm um Himmels willen nicht auf den Gedanken, schon aufzustehen. Ich bin sicher, dass diese Frühaufsteherei junge
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