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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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und bat den Fahrer, mich an die Gare de l’Est zu bringen. Als sich unsere Blicke im Rückspiegel trafen, erkannte ich ihn. Übernächtigte Augen mit entzündeten Lidrändern, das bräunlich verfärbte Weiß. Er war so groß, dass sein Schädel fast das Dach des Wagens berührte. Ich sah seine Wangenmuskeln spielen und lächelte ebenfalls. Behutsam legte ich Lio neben mich auf den Sitz, schlug die knisternde Kunstfaserdecke auseinander und betrachtete sie genau. Sie schien dünner als bei Paules Abreise vor zehn Tagen, schwächer und war ausgekühlt, ansonsten unversehrt. Ihr schwarzer Haarschopf war verklebt, der schmuddelige Strampelanzug roch nach saurer Milch und Erbrochenem. Noch immer hatte sie die Augen geschlossen, machte jedoch mit den Armen ein paar fahrige Bewegungen. Ich wickelte sie wieder in die Decke, schlug meinen Mantel darüber und wies den Fahrer an, uns zu einem Kaufhaus zu bringen. Unsere Blicke begegneten sich wieder, etwas schimmerte in seinen Augen, und da ich es weder Mitgefühl noch Solidarität noch Spott oder Ironie nennen konnte, sah ich aus dem Fenster in den Regentag. Noch spürte ich, wie mein Kopf ins Polster sank, dann nichts mehr.
    Leises Ticken, schneller als eine Uhr. Das Taxi stand vor einem Einkaufszentrum, und der Taxameter zählte meinen Schlaf. Vor mir, stumm wie ein Berg, der schwarze Mann. Lio schlief in meinem Arm. Vorsichtig fischte ich das Portemonnaie aus dem Mantel und gab dem Fahrer, als wollte ich mich loskaufen von seiner Mitwisserschaft, den doppelten Betrag.
    Da war dieselbe Musik wie in den Korridoren der Villa. Auf der Rolltreppe in den siebten Stock leuchtete, glitzerte, duftete und dudelte es wie schwirrende Insekten um meinen Kopf. Vor den übervollen Regalen mit Babyzubehör wurde ich augenblicklich von beflissenen Verkäuferinnen gestellt, auf deren rot und orange gemusterten Uniformen der Schriftzug des Kaufhauses prangte. Sie reichten das Kind herum, flöteten mehrstimmig und versorgten mich mit Windeln, Feuchttüchern, Strampelanzug, Babyhäubchen, Rassel, Schnuller, Kapuzenjäckchen, Fläschchen, Milchpulver, Kram und Zeug, von dem ich bislang nichts geahnt hatte. Vor der Damentoilette, auf deren Tür das Piktogramm eines Babys mit halb umgeschlagener Windel prangte, wartete ich, bis ich sie leer vermutete, und trat ein. Ich zog dem Kind die neuen Sachen an und schmiss das dreckige Zeug bis auf das Häschen, das noch aus Paules Kinderzeit stammte, in den Mülleimer. Auf dem Weg in die Cafeteria achtete ich darauf, nicht wieder in das Jagdrevier des kleinen Verkäuferinnenschwarms zu geraten, setzte mich an einen der vielen leeren Tische und bestellte heißes Wasser und ein Bier. Ich schüttelte das Fläschchen mit dem Pulver, bis sich eine dickliche Milch gebildet hatte, doch als ich sie Lio gab, weinte sie, und dicke Tropfen rollten aus ihren Augenwinkeln. Ich wiegte sie an meiner Schulter und brummte ein wenig, doch sie weinte weiter, schluchzte laut, mir lief der Schweiß über den Rücken. Als ich den Kellner sah, bestellte ich stilles Wasser, mit dem ich die Milch verdünnte, bis sie abgekühlt war.
    Lio trank ächzend, dann schmatzend. Ich grub Zigaretten und Feuerzeug aus der Tasche, klaubte mit den Zähnen eine Kippe aus der Packung, zündete sie an und rauchte. Lio trank. Und schlief.
    Als wir in Genf umstiegen, öffnete sie zum ersten Mal die Augen. Sie waren von einem unbestimmten bleifarbenen Grau, mein Blick fiel in ihren, bis er auf einen Widerstand traf. Splitternd brach etwas: Flockensturm in der Schneekugel meines Herzens, winzige Scherben darin.
    Mit dem Kind unter dem Mantel tappte ich spätabends durchs Treppenhaus. Kindergeschrei bei Alice im Parterre, auf der Fußmatte vor unserer Wohnung ein Zettel von Frau Niederlin, mit der Aufforderung, die Wäsche im Trockenkeller abzuhängen, dann der ploppende Laut, als im Treppenhaus das Licht erlosch. Auch in der Wohnung war es dunkel, nur am Anrufbeantworter leuchtete es rot, und die Stimme der Automatenfrau meldete: Keine … neue … Nachricht. Schnell ging ich in Schuhen und Mantel durch die verwaisten Räume. Das Kind ans Herz gepresst, spürte ich einen Druck aufsteigen, eine Verhärtung in der Kehle und dass in meiner Brust etwas auslief. Dann die Gewissheit der Leere. Paule war weg.
    Später hockte ich neben dem Korbwagen mit dem schlafenden Kind und horchte in die nächtliche Wohnung. Gefühl, es werde etwas Unkontrollierbares geschehen, Gefühl, an einer Schwelle zu stehen,

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