Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
Vom Netzwerk:
und so fort, bis ich am Ende Tageslicht sehe. Ich renne ans Fenster und sehe, dass ich mich nicht wie vermutet im dritten Stock, sondern in der Beletage befinde, und trete, da ein Ausgang nicht zu finden ist, kurzerhand das Fenster ein, schlage mit dem Ärmel über der Faust die Scherben weg und springe hinaus.
    Der Kiesweg führte mich hinter Thujahecken, über ein verwildertes Nachbargrundstück, mündete in einen tunnelartig überwucherten Hohlweg, wand sich wie eine Schlange ins dunkle Grün und endete vor der angemoderten Tür eines Geräteschuppens. Faulender Kompostmoder. Ich klopfte, hämmerte gegen die verschlossene Tür, rüttelte an der Klinke, bis sie herausbrach, trat gegen das faulige Holz, das jedoch nicht nachgab, umkreiste die Hütte, versuchte, durch das staubverschmierte Fenster zu sehen, war drauf und dran, noch eine Scheibe einzuschlagen, als ich die Klappe entdeckte. Ich öffnete sie und kroch hinein. Schwer atmend beschirmte ich die Augen mit der Hand, als könnten sie sich so schneller an die Dunkelheit gewöhnen. Es war feucht und kühl in dem Raum.
    Vor einer Truhe oder einem Überseekoffer zeichnete sich der massige Umriss der Frau ab. Sie hatte sich mit dem Rücken zu mir über die Kiste gebeugt. Doch als sie sich jetzt erschrocken aufrichtete, sah ich, dass ihre Hände leer waren. Auf ihrer Oberlippe klebte noch ein Schnurrbart aus getrocknetem Blut. Ich drängte sie beiseite und sah am Boden der Kiste mein Kind liegen. Es lag mit gestreckten Armen und Beinen, herabgezogenen Mundwinkeln, und seine Lider waren zu dicken Spalten zusammengedrückt. Atmete sie nicht? Als ich sie hochheben wollte, schob sich die Dicke dazwischen. Ich roch ihren säuerlichen Putzfrauengeruch.
    »Geben Sie mir das Kind. Ich bin sein Vater.« Zum ersten Mal sagte ich es. Sein Vater. Son père. Es klang bizarr. Nach Katholizismus, Rohrstock und dem Rauschen von Ulmenlaub über verwitterten Grabplatten. Die Frau reagierte nicht, sondern versuchte, an das Kind heranzukommen. Ich drängte sie ab, indem ich sie bei den Schultern packte und sie zwang mich anzusehen. Dann wiederholte ich meine Worte, begann zu erklären, spürte mein Unbehagen, versuchte andere Formulierungen, verhaspelte mich. Paule, meine Frau – wieder so ein Fremdheitsgefühl – hätte weg … das Kind müsse zum Arzt, extra aus der Schweiz angereist, Nachtzug, TGV , als täte das was zur Sache. Die Frau versuchte, sich mir zu entwinden, wir rangen, während ich immer weiter redete, deutsch jetzt, da mir das Französisch ausgegangen war, und ich den Eindruck hatte, sie könnte mich ohnehin nicht verstehen, wollte es gar nicht, begann ich sie, die sich losgerissen hatte, zu beschimpfen, stieß sie von der Truhe weg, erreichte Lio, fasste eine ihrer kleinen Fäuste, die eiskalt war, hob sie aus dem Durcheinander aus Windeln, Tuben, Schoppenflaschen und Tüchern. Das Kind bewegte sich nicht, es hatte die Augen fest zusammengedrückt.
    Die Frau begann mit gellender Stimme um Hilfe zu schreien. Ich weiß nicht, warum ich nicht einfach mit dem Kind weggegangen bin. Stattdessen legte ich es zurück in die Kiste und hielt der Frau den Mund zu.
    »Ich bin der Vater.« Als müsste sie es bestätigen, bevor ich mit Lio gehen konnte. »Je suis son père«, und stöhnte wild auf, sie hatte mich in die Hand gebissen. Ich packte sie am Genick und schüttelte sie, um sie zur Besinnung zu bringen oder um sie besinnungslos zu machen, da warf die Dicke mit aller Kraft den Kopf herum, gerade als ich meinen Griff bereits wieder gelockert hatte, sie befreite sich, prallte in der zu heftigen Bewegung zur Seite, schlug mit der Schläfe an einen Balken des Verschlags und taumelte. Ihr schlaffer Körper sank zusammen und rutschte zu Boden. Lio greinte leise.
    Ich fasste der Frau in die Halsgrube und bettete sie, als ich den Puls fühlte, auf die Seite. Meine Hand war nass. Die Frau blutete aus dem Ohr. Ich faltete eine Stoffwindel zu einer flachen Kompresse und legte sie der Bewusstlosen unter den Kopf. Ohne einen weiteren Gedanken hüllte ich das Kind in eine funkenschlagende Kunstfaserdecke, presste sie und ein blank geliebtes Häschen an meine Brust und kroch aus dem Verschlag. Ich lief und lief die Hecke entlang, bis ich einen Durchschlupf fand und dahinter eine Holztür in der Mauer, durch die ich auf die Straße hinausgelangte.
    Ampeln, Autos, Passanten. Ich stand an einer belebten Durchgangsstraße und winkte ein Taxi heran. Erleichtert sank ich auf den Rücksitz

Weitere Kostenlose Bücher