Auch Deutsche unter den Opfern
mich genügend nach innen bewege, ins innere Auge, dann kann ich davon Zeuge sein. Insofern sollte man mit Gedenktagen nicht so furchtbar wuchern.
Stuckrad-Barre: Wenn man tatsächlich dabei ist, erinnert man sich später möglicherweise gar nicht so gut, weil man natürlich das Entscheidende zumeist doch nicht selbst sieht, also das eine Bild, das dann um die Welt geht und das in den Köpfen bleibt. Man steht irgendwo am Rand und sieht es gar nicht, weil im entscheidenden Moment ein Bus vorbeifährt, zum Beispiel.
Kluge: Man hat furchtbar viele, ganz diffizile Eindrücke: Ich muss noch eine Wurst essen. Und ich muss noch den und den besuchen.
Stuckrad-Barre: Ja, oder: Mein Schuh ist offen. Bischof Huber fragt in seinem Brief, welche »Hoffnungen und Ängste« man am 9. November 1989 hatte. Da kippt die Sache schon, das ist ja das Gegenteil von Erinnern. »Schon damals war mir klar« – so kann man es nicht machen. Die Angst kam vielleicht später, und die Hoffnung von 1988 ist ergiebiger als die vom 9. 11. 1989.
Kluge: Absolut! Man hat nicht schlagartig eine Hoffnung.
Stuckrad-Barre: Deshalb darf ein Roman oder eine Erzählung über den 9. 11. 89 eben nicht beginnen mit dem 9. 11. 89. Ich zitiere noch mal aus Bischof Hubers Brief: »Dabei ist der 9. November ja bereits vorher ein deutsches Datum gewesen.« Wenn man auch nicht gleich vom »Schicksalstag der Deutschen« sprechen möchte, so muss man doch feststellen: ein anfälliges Datum.
Kluge: Ja, 1848, 1918, 1923, 1938 und schließlich 1989 – das ist zwar reiner Zufall. Aber wenn man die Familien, von denen man abstammt, als eine Art Strom über diese verschiedenen 9. November hinziehen sieht, dann ist es wirklich so, dass ich mir unter dem Gesichtspunkt »Was können wir aus diesem Land machen?« viel vorstellen kann.
Stuckrad-Barre: Je nachdem auch: Was kann unser Land aus uns machen? Meinem Gefühl nach ist die erste souveräne Aktion der wiedervereinigten Bundesrepublik in Hinblick auf sich selbst der Streit um den Wiedervereinigungsfeiertag gewesen. Da war der Ausnahmezustand vorüber, die Mechanismen des Systems waren wieder voll intakt. Einen Feiertag mag es geben, aber nur, wenn dafür ein anderer abgeschafft wird!
Kluge: Davon wird die Pflegeversicherung bezahlt. Zunächst wurde geprüft, ob man für den 3. Oktober den zweiten Pfingstfeiertag aufgibt. Nein, sagten die Kirchen, das ist ganz unmöglich.
Stuckrad-Barre: Zwischendurch wurde auch mal erwogen, den Feiertag auf den jeweils ersten Sonntag im Oktober zu legen, damit kein Arbeitstag entfällt.
Kluge: Zum Ausgleich wurde dann der Buß- und Bettag als gesetzlicher Feiertag abgeschafft, nur in Sachsen existiert der noch als solcher. Dafür halten Bayern und das Saarland noch an Mariä Himmelfahrt fest.
Stuckrad-Barre: Tja, der Buß- und Bettag. Als Kind dachte ich, es heißt »Buß- und B-Tag«.
Kluge: Der A-Tag und der B-Tag? Also, solche Missverständnisse sind das Beste überhaupt. Es gibt einen Film von mir, da sitzt in der Episode »Bußtag« Hannelore Hoger als Geschichtslehrerin Gabi Teichert zuhause und korrigiert Aufsätze. Da heißt es im Off-Text: »Sie streicht die Fehler raus, wenn doch die Fehler das Beste daran sind.« Sie merken, das ist jetzt bei mir verdrahtet, die Stichwörter »Fehler« und »Buß- und Bettag« mit einer entsprechenden Filmszene. Das heißt, die Besonderheiten in der Welt, die verkehren untereinander. Und die Regelmäßigkeiten, die trennen die Dinge.
Stuckrad-Barre: Gestern haben wir uns prächtig unterhalten, merkten erst nach einiger Zeit, dass Sie gerade von Halberstadt sprachen, ich aber von Weiterstadt.
Kluge: Irrtümer sind das Beste, die können zu originellen Einfällen führen. Das ist wie Crossmapping. Beim nächsten Mal machen wir es gleich so: Mit der U-Bahn-Karte Londons durch den Harz wandern.
Das Buch
Reportagen, Erzählungen, Porträts, Mono- und Dialoge – ein Sittengemälde unserer Zeit. Wahlkampf, Streik, Demonstrationen, Konsum, Fußball, Kino, Theater, Musik, Literatur, Mode, Stadtleben, Überlandfahrten.
Politik, Kultur, Gesellschaft.
Mit seinem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung findet Stuckrad-Barre Momente der Wahrheit inmitten von Vorgängen, die genau diese verschleiern sollen. Dabei wechselt sein Blick permanent zwischen außen und innen, so dass nicht nur Erkenntnis über all die anderen Menschen, sondern auch über ihn, den Zuschauer, aufblitzt. Und so entsteht aus vielen Einzelbeobachtungen ein deutscher
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