Auch Deutsche unter den Opfern
sind sehr starke Bilder, an die man sich genau erinnert, obwohl man sie nie gesehen hat.
Stuckrad-Barre: Dann ist die Frage, welche Bilder hat man selbst dem entgegenzusetzen? Als die Mauer fiel, wohnte ich in Göttingen, Zonenrandgebiet. Dort kamen viele Menschen herüber, gaben ihr Begrüßungsgeld in Elektromärkten aus. Und in der Schule wurde im sogenannten Milchkeller ein Willkommenstreffpunkt für die Brüder und Schwestern eingerichtet, wo Heißgetränke und Südfrüchte ausgegeben wurden. Daran erinnere ich mich, an diesen Geruch von Apfelsinen und die komischen Anoraks. Das ist so ein Bild. In dem Winter habe ich mich dann mit einem Freund aufgemacht Richtung Grenze, mit dem Fahrrad. Um mal zu gucken, ob man da jetzt wirklich rüberdarf. Es wurden ja damals viele Andenken gesammelt an den Grenzstreifen, ich habe so ein Schild »Halt, hier Grenze! Der Bundesgrenzschutz« von einem Pfahl abgerissen und mit nach Hause genommen. Das steht immer noch bei mir herum.
Kluge: Das Erinnerungsvermögen, das ja nicht trügt, berichtet von Wegen, von Gerüchen. Und nun sagen Sie, es ist ein Bild. Das ist ja interessant, was alles ein Bild ist.
Stuckrad-Barre: Es ist ein mehrdimensionales Bild.
Kluge: Und ein inneres Bild verbindet sich damit, also, was unsere kleinen Beamten da im Hirn sozusagen kombiniert haben. Vertrauenswürdig ist dann beispielsweise so ein Geruch von Apfelsinen. Denn den gab es ja nicht aus dem Fernseher, auch nicht aus dem Hörfunk, also ist der echt. Und das Schild ist ja auch da. Das ist ein interessantes Bild – die Beute.
Stuckrad-Barre: Für einen 14-Jährigen war der Grenzstreifen mit den verlassenen Türmen auch ein großer Abenteuerspielplatz: Man wusste nicht, sind auf dem Acker drumherum nun Minen oder nicht? Kann man da jetzt draufgehen? Man probiert es mal.
Kluge: Diese Beschreibung, »Ich reiße dieses Schild ab und trage es nach Hause«, das erinnert mich sofort an Beutezüge 1946, als ich selbst 14 Jahre alt war. Nachkriegszeit – auch ein Neuanfang. Wir gehen an Flugzeuge ran, die abgewrackt sind, von der ehemaligen Luftwaffe. Da ist schönes Leder drin, das kann man rausmachen und auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Das ist ein Punkt, an dem ich meine Erinnerung festmachen und wiederherstellen kann.
Stuckrad-Barre: Und der 14-Jährige sucht Waffen und spielt Krieg, oder? Sogar kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
Kluge: Ja, wir haben den Krieg natürlich nachgespielt. Ich hatte aus dem Lazarett Mensch-ärgere-dich-nicht-Steine, 2000 Stück, in verschiedenen Farben. Das waren meine Truppen. Dann habe ich den britischen Besatzungsbewacher, der deutsche Gefangene beaufsichtigte, die die Straßen räumten, runtergebeten und es ihm gezeigt. Aufgeschichtete Hügel. Es war ein Generalstabsspiel. Interessant, dass Geschichte so träge ist – im Nachhinein rafft es sich, macht sich aber nur fest an solchen konkreten Erinnerungen. Das ist dann wie ein Anker, der löst Assoziationen aus. Unmittelbare Erfahrung ist immer echt: Ich fliege die Treppe runter, breche mir den Arm. Das merke ich mir. Das ist eine Erfahrung.
Stuckrad-Barre: Auf dem Tisch vor uns liegt eine Akte mit Unterlagen für dieses Gespräch. Auf dem Aktendeckel sehe ich relativ frische Blutflecken. Was ist da passiert?
Kluge: Ich habe heute Morgen in meine Waschtasche gefasst, genau in den Rasierapparat. Mit Blut besiegelt.
Stuckrad-Barre: Wenn Sie diese Akte eines Tages mal wieder zur Hand nehmen, haben Sie durch diese Blutflecken den Tag unseres Gespräch gleich viel plastischer in Erinnerung.
Kluge: Das sind Erinnerungsspuren. Um die gruppiert sich dann alles andere. Ich glaube deswegen nicht an die Macht der Medien – die können nur orchestrieren. Das ist so ähnlich wie eine Oper von Richard Wagner, nur am Klavier oder mit 196 Orchestermitgliedern in Bayreuth. Medien bedeuten immer gleich 196 Orchestermitglieder. Die Musik aber ändert sich nicht. So besteht unsere Wahrnehmung eigentlich aus solchen Einzeleindrücken.
Stuckrad-Barre: Geschichte ist einprägsamer, wenn Blut fließt?
Kluge: Die Wunde an meinem Finger ist schon fast verheilt.
Stuckrad-Barre: 1989 ist ja kein Blut geflossen.
Kluge: Erstens ist das ein Wunder. Zweitens ist es etwas, was einen begeistern kann.
Stuckrad-Barre: Vielleicht ist dadurch, dass kein Blut geflossen ist, das Großartige am Mauerfall gar nicht so deutlich im Bewusstsein. Was das für ein Ding ist, dass wir hier heute friedlich und unbehelligt in der Akademie der Künste
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