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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Ostwind
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    Im vorigen November war eine Reihe hölzerner Strandhütten, deren Farbe der steife Ostwind weggefetzt hatte, bis auf den Grund abgebrannt. Die Feuerwehr war aus zwölf Meilen Entfernung angerückt, und als sie eintraf, hatte es nichts mehr für sie zu tun gegeben. »Wild gewordene Rowdys«, schrieb das Lokalblatt; es wurde aber nie ein Schuldiger gefunden. Ein Architekt von einem eleganteren Teil der Küste erklärte in den Fernseh-Regionalnachrichten, die Hütten gehörten zum Kulturerbe der Stadt und müssten wieder aufgebaut werden. Der Gemeinderat verkündete, er werde sämtliche Möglichkeiten prüfen, hatte seitdem aber nichts getan.
    Vernon war erst vor wenigen Monaten in die Stadt gezogen, und die Strandhütten lösten in ihm keine Gefühle aus. Eigentlich war durch ihr Verschwinden die Aussicht vom Right Plaice, wo er manchmal zu Mittag aß, eher besser geworden. Nun konnte er von einem Fenstertisch aus einen Betonstreifen sehen und dann feuchten Kies, einen öden Himmel und ein lebloses Meer. So war das eben an der Ostküste: monatelang ein bisschen schlechtes Wetter und meistens gar kein Wetter. Ihm sollte das recht sein: Er war hierher gezogen, weil er in seinem Leben kein Wetter haben wollte.
    »Siesind fertig?«
    Er sah nicht zu der Kellnerin auf. »Direkt vom Ural«, sagte er und schaute weiter auf das lange, flache Meer.
    »Entschuldigung?«
    »Es liegt nichts zwischen uns und dem Ural. Da kommt der Wind her. Nichts hält ihn auf. Geradewegs über alle Länder hinweg.« Kann einem glatt den Schwanz abfrieren, hätte er unter anderen Umständen womöglich hinzugefügt.
    » Uraaal «, wiederholte sie. Als er den Akzent hörte, schaute er hoch. Ein breites Gesicht, Strähnchen im Haar, ein stämmiger Körper und keinerlei Kellnerinnengetue, um ein höheres Trinkgeld zu ergattern. Wahrscheinlich aus Osteuropa, die Leute überschwemmten ja heutzutage das ganze Land. Baugewerbe, Kneipen und Restaurants, Obsternte. Kamen in Kleinbussen und Reisebussen hier an, hausten in besseren Karnickelställen, verdienten sich ein bisschen Geld. Manche blieben, andere gingen zurück. Vernon kümmerte das nicht. So war das jetzt meistens: Es kümmerte ihn nicht.
    »Kommen Sie auch daher?«
    »Woher?«
    »Aus so einem Land. Zwischen hier und dem Ural.«
    » Uraaal . Ja, vielleicht.«
    Komische Antwort, dachte er. Aber vielleicht kannte sich die Kellnerin in Geografie nicht so aus.
    »Haben Sie Lust, eine Runde zu schwimmen?«
    »Schwimmen?«
    »Ja, Sie wissen schon. Schwimmen. Platsch, platsch, Kraulen, Brustschwimmen.«
    »Kein Schwimmen.«
    »Na gut«, sagte er. Er hatte es sowieso nicht ernst gemeint. »Die Rechnung, bitte.«
    Währender darauf wartete, schaute er wieder über den Beton auf den feuchten Kies hinaus. Eine Strandhütte war vor Kurzem für zwanzig Riesen weggegangen. Oder waren es dreißig? Irgendwo unten an der Südküste. Immobilienpreise im Aufwind, der Markt spielt verrückt: So stand es in den Zeitungen. Nicht, dass das für diese Gegend zutraf oder für die Objekte, mit denen er es zu tun hatte. Hier war der Markt schon lange im Keller, die Verkaufszahlen ein langer Strich wie das Meer. Alte Leute starben, man verkaufte ihre Wohnungen und Häuser an Jüngere, die dann auch irgendwann darin alt werden und schließlich sterben würden. Das war ein Großteil seines Geschäfts. Diese Stadt war nicht besonders gefragt, nie gewesen: Die Londoner fuhren auf der A12 weiter in teurere Gegenden. Sollte ihm recht sein. Er hatte sein Leben lang in London gewohnt, bis zur Scheidung. Jetzt hatte er einen ruhigen Job, eine Mietwohnung und verbrachte jedes zweite Wochenende mit den Kindern. Wenn sie älter wurden, würden sie sich hier womöglich langweilen und sich wie kleine Snobs aufführen. Aber jetzt waren sie noch gern am Meer, wo sie Kieselsteine ins Wasser werfen und Fritten essen konnten.
    Als die Kellnerin die Rechnung brachte, sagte er: »Wir könnten zusammen abhauen und in einer Strandhütte leben.«
    »Ich nicht denke«, antwortete sie und schüttelte den Kopf, als hätte sie das ernst genommen. Ach ja, der gute alte englische Humor, an den gewöhnten sich die Leute erst mit der Zeit.
    Er musste sich um ein paar Mietsachen kümmern – Mieterwechsel, Renovierungen, feuchte Wände – und dann um einen Verkauf weiter oben an der Küste, darum kam er erstnach einigen Wochen wieder ins Right Plaice. Er aß seinen Schellfisch mit Erbsenbrei und las die Zeitung. Eine Stadt in Lincolnshire

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