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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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vielleicht fahrlässig erschienen – und davon eben doch zu erzählen, hätte eventuell Intimitätsverrat bedeutet. Als Schlingensief an Beckmanns Holztisch sagte, dass er nun nicht mehr jeden Scheiß mitmacht, war das ja auch eine ziemliche Text-Bild-Schere.
    »Weißt du, wie es Christoph geht?« – diese Frage kam in den letzten Monaten immer wieder auf, wenn man Leute traf, die ihn durch gemeinsame Arbeiten kennen, die Text oder Kostüm beigesteuert haben, Musik oder Fotos, die sich um seine Verträge kümmern oder in anderer Weise mal hier, mal da an seinem Projekte-Dschungel mitförstern. Solche Leute trifft man häufig, es gibt derer nämlich viele. Und bei den meisten ist daraus mehr als eine reguläre Arbeitsbeziehung geworden, weil Schlingensief ein so begnadeter Anstifter ist, der Albtraum jedes Betriebsrats. In jedwede künstlerische Äußerung wirft Schlingensief sich immer komplett hinein, und er erwartet das auch stets von sämtlichen Mitarbeitern, die allesamt Mitspieler werden. Das ist mitunter sehr anstrengend, und dass man mittendrin nicht mehr kann, durchdreht, ist der Normalfall – und genau das erzeugt die immense Energie, die von seinen Produktionen ausgeht: Alle agieren am Rande ihrer Möglichkeiten. Wer einmal mit Schlingensief zusammenarbeitet, geht daraus als Veränderter hervor.
    »Meine Arbeit bestand doch darin, Behältnisse zu schaffen, Forschungslabore zu erzeugen«, schreibt er in seinem Buch und blickt also auf die eigene Arbeit – und damit auf sein Leben – in der Vergangenheitsform. Doch gelingt es ihm phasenweise auch, wieder in Gegenwartund Zukunft zu wechseln, er inszeniert vom Krankenbett aus, plant den Bau eines Opernhauses in Afrika – und greift in den düstersten Nächten zum Diktiergerät, spricht die Texte ein, aus denen dieses Buch geworden ist, das entsprechend wild changiert, mal Klageschrift ist, mal Weltumarmung. Hunderte von Sätzen daraus möchte man direkt mit weißem Lackstift auf Lederjacken schreiben – eine Hymne auf das Leben und eine Lamentation über dessen Ende.
    Zuletzt getroffen haben wir uns vor einigen Wochen, im Januar. Die Krankheit und die Folgen der Therapie sah und hörte man ihm deutlich an, und doch war ja alles auch schon zu Kunst geronnen, auf die Bühne gebracht, was den seltsamen Effekt hat, dass man ihm persönlich diese Krankheit gar nicht mehr zurechnet – hat er sie nicht schon in die Kunst überführt? »Er hat seine Krankheit verarbeitet«, heißt es, aber anders als sonstige Traumata kann man sich eine Krebserkrankung so natürlich nicht vom Leib schaffen. Metastasen im verbliebenen Lungenflügel – man hat das gehört, liest es jetzt auch im Buch, versteht schon, was das heißt. Und ihm gegenübersitzend gab es gar keinen Zweifel, dass er sehr krank ist. »Sehr krank«, wie sehr denn? »Sehr krank« sagen, um das Wort »todkrank« zu vermeiden? Der Gesunde will sensibel sein – und ist in Wahrheit der Schreckhafte. Schlingensief selbst spricht und schreibt derart offensiv und dezidiert von Sterben und Tod, und behält im Überlebenskampf trotz des übermächtigen Gegners die Oberhand, indem er dem dräuenden Tod etwas abtrotzt, Kunst nämlich. Und die handelt davon, wie das geht: sterben. Nicht davon, wie man das am besten macht, sondern davon, dass einem das niemand sagen kann; kurz: Er erzählt, was mit ihm von der Diagnose an geschieht. Auf und ab.
    Nach der Buch-Präsentation, auf einer Bank an der Spree, lese ich also ein paar Seiten, und es haut einem die Beine weg.
    Ein Schiff fährt flussaufwärts, ein Ausflugsdampfer namens »Nostalgie« – auf dem hat Schlingensief doch seinen 40. Geburtstag gefeiert! Mittlerweile ist er 48, zum Zeitpunkt des Protokollbeginns ist er 47 und leitet aus dieser Zahl mal Demut, mal Zorn und Verzweiflung ab:»47 Jahre lang habe ich wirklich viel gemacht, viele Leute kennengelernt, viele Dinge erlebt.« Dann aber: »Und jetzt ist man 47 und soll denken: Sei froh, dass du lebst, und genieß jeden Tag, als sei es dein letzter. Ach, ist das alles eine Scheiße!«
    Schlingensiefs Protest gegen diesen substanziellen Angriff geht durch alle Tonarten, von Ohnmacht bis Optimismus, der Patient überprüft alles bisher Gedachte, verwirft alles Gewusste und steht immer wieder ratlos vor dieser einen, einzig wahrhaft existenziellen Kränkung: »Ich fühle mich von diesem Ding in meinem Körper gerade extrem beleidigt und massiv bedroht.«
    Nachdem der delirierende Schauspieler Udo Kier Anfang

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