Auch Deutsche unter den Opfern
Bodewig, die als Hoffnungsträger zu präsentieren schon einiges Selbstbewusstsein verlangt, aber daran herrscht ja ohnedies bei Naumann kein Mangel. Zehn Monate lang ist er in einem von der Partei geleasten, bürgernahen roten Golf durch Hamburg gefahren und hat »mit den Menschen« gesprochen. Er recherchierte, guckte sich alles an, stieg in jeden Keller hinab, um den ob seines – hanseatisch formuliert – abwechslungsreichen Lebenslaufs skeptischen Hamburgern zu beweisen, dass er es ernst meint. Von seinen Stadterkundungstouren hat Naumann viele illustrative Fallbeispiele mitgebracht, mit denen er seine politische Gegenwartsanalyse und sein Zukunftsprogramm geschickt, auf die Dauer etwas ermüdend unterfüttert: Das türkische Mädchen, das wegen seines Kopftuchs als Banklehrling abgelehnt wurde. Der arbeitslose Fleischer, der zum Biokostverkäufer umgeschult wurde und trotzdem keine Stelle fand. Die Großfamilie, die; der alleinerziehende Vater, der; die überforderte Lehrerin, die; die Ein-Raum-Gaststätte, in der – und so weiter. Er weiß, dass dies eine Kitsch-Falle ist, ja dass Wahlkampf überhaupt Kitsch-Saison ist und Plattitüden-Wettstreit, aber, wie man in Hamburg sagt: Nützt ja nichts.
Naumanns Habilitationsschrift trug den Titel »Strukturwandel des Heroismus. Vom sakralen zum revolutionären Heldentum«. Vielleicht möchte er auch einfach nur seine Biographie abrunden: zurück zum sakralen Heldentum – und nebenbei ist es doch auch ganz schön, in dereigenen Stadt als Schlussakkord eines vorbildlichen öffentlichen Bürgerlebens noch mal für alle sichtbar der Erste zu sein.
Gefragt, wie er, Dr. Naumann, die Sprachverrottung auf Plakaten und in Diskussionen aushalte, ja ob er ihr nicht als Wahlkämpfer zwangsläufig selbst zuarbeite, ob ihn nicht schaudere, bei der so ernsthaften wie häufigen Verwendung des Stummelworts »KiTa« beispielsweise, zuckt Naumann die Achseln und sagt, da gebe es nun mal so »automatisierte Fingersätze«, wie einem zum Beispiel dieser gefalle: KiBeG, also Kinderbetreuungsgesetz. Der mal ehrfürchtige, mal naserümpfende, in jedoch kaum einem Naumann-Porträt fehlende Hinweis auf dessen Sprachgewandtheit und literarische Bildung verführt dazu, mit ihm jetzt mal das Thema zu wechseln, man hat ja schließlich die Plakate gesehen, die Broschüren eingesteckt und sogar am Hamburg-Becher genippt. Kinderarmut, natürlich, aber kann einem das nicht auch Kurt Beck erzählen, kann man Naumann jetzt vielleicht mal kurz mit ein paar schönen Formulierungen von Karl Kraus, seinem Karl Kraus!, aus der Argumentationsroutine herausreißen? Einen Versuch ist es wert: »Sozialpolitik ist der verzweifelte Entschluss, an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen.« Berater Beling guckt alarmiert, trotzdem, eine noch, vielleicht doch ganz hilfreich bei der Verdauung des Fernsehstotterns: »Politik und Theater: Rhythmus ist alles, nichts die Bedeutung.« Man müsse die Schriften von Karl Kraus schon im zeitlichen Kontext ihrer Entstehung lesen, empfiehlt Naumann – aber das hätte einem, etwas anders formuliert gewiss, wahrscheinlich auch Kurt Beck sagen können.
Immerhin, am Abend soll es ja dann literarisch werden, denn da trommelt die SPD in einem Kultur-Veranstaltungsgebäude zum »Endspurt-Auftakt«, und wer da – Hansestadt, Kultur, Trommeln, SPD – nicht fehlen darf, versteht sich wohl von selbst. Aber bevor Günter Grass sich alsdann ein weiteres Mal »mahnend« in den Hamburger Wahlkampf »einmischen« wird, muss erst noch, aus gegebenem Wahlanlass heute in Hamburg, das Partei-Präsidium tagen und am Nachmittag gemeinsamausschwärmen und in der Fußgängerzone und in einem Einkaufszentrum rote Rosen verteilen.
The Show must go on!, sagt ein Mitarbeiter Naumanns jetzt und klopft dabei mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr.
»Das soziale Deutschland« steht an der Wand, vor der Finanzminister Steinbrück, Parteichef Beck und Kandidat Naumann ein paar Stunden später der Presse gegenübertreten, in einem Haus mit der zu dieser Unterstützungsvisite der Parteioberen gut passenden Adresse »Trostbrücke 6«. Die Journalisten haben viele Fragen an Steinbrück und Beck, die seit heute laufenden bundesweiten Razzien entlang der teuren Liechtenstein-DVD interessieren aktuell mehr als der Hamburger Wahlkampf. Naumann probiert beharrlich, die Verschiebung der HSH-Nordbank-Bilanzpressekonferenz auf die Zeit nach den Wahlen in den Fokus der Aufmerksamkeit zu
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