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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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Anzug.
    Es ist Abend geworden. Im Ausrichtungssaal der Endspurt-Sause gibt es doppelt so viele Stühle wie Zuhörer. Am Eingang kann man für drei Euro die rote Naumann-Tasse kaufen, für 25 Euro einen »Original-Druck« von Günter Grass: ein Hahn mit rotem Kamm. Für fünf Euro gibt es das Grundsatzprogramm der SPD als Hörbuch, gelesen von Wolfgang Thierse, inklusive des vierzehnminütigen Hits »Bessere Bildung, kinderfreundliche Gesellschaft, starke Familien«.
    Nach einer bestürzend einfältigen Grass-Rede fragt Naumann die Anwesenden, ob es einem nicht – wie ihm am Abend zuvor geschehen – die Sprache verschlagen dürfe, wenn die Bilanzpressekonferenz der Landesbank verschoben, die Augenklinik des Universitätskrankenhauses Eppendorf verkauft und weiterhin behauptet werde, der Haushalt sei ausgeglichen, trotz 659 Millionen Miesen. Der wärmende Applaussagt: doch. Doch, da darf es einem die Sprache verschlagen. Ein guter Übergang zu Kurt Beck, der anschließend den Saal in Grund und Boden redet. »Michael war jetzt zehn Monate unterwegs, auch an den Wochenenden, liebe Freundinnen und Freunde!«
    Wörter wie »Verantwortungskorridor«, stark vereinfachende Ausrufe wie »Die Krankenschwester, der Facharbeiter!« und Formulierungen wie »Die Kultur in ihrer Breite und Durchdringung« fliegen am beurlaubten »Zeit«-Herausgeber vorbei in den halbleeren Saal.
    Mike, müssen Sie das wirklich machen?
    Er tue seine Pflicht, hat Naumann gesagt, und er tue sie gern; zwölf Pfund Gewicht habe er im Wahlkampf verloren, und das täte ihm gut. Grass nickt. Bei Naumanns SED-Liechtenstein-Formulierung hat er fast neidisch geguckt, na ja, ihm war immerhin »das Alphabet des Asozialen, von Ackermann bis Zumwinkel« eingefallen.
    Ist es nicht rührend, wie die alten Herren der SPD helfen? Ja, schon – oder es ist ganz einfach genau umgekehrt.

[ Inhalt ]
    Diskutieren mit Günter Grass
    Es ist ein 2001er Bordeaux »St. Moritz«, der da über Lesepult und Manuskriptseiten tropft, auch der braune Pullunder des Nobelpreisträgers hat etwas abbekommen, und bevor Günter Grass nun den 900 versammelten Göttingern aus seinem Tagebuch des Jahres 1990 vorlesen kann, muss erstmal gewischt werden. »Ein etwas feuchter Anfang«, murmelt Grass. Sein Verleger Gerhard Steidl, der hier von Göttingen aus »die Weltrechte« des Autors vermarktet, räumt das zerbrochene Weinglas ab, Grass hatte es auf die nicht ganz waagerechte Kante des Stehpults gestellt, von wo es langsam heruntergerutscht war. Es riecht also leicht säuerlich, als die Lesung beginnt.
    Hinter Grass, auf die Leinwand des großen Hörsaals, ist das Cover seines just veröffentlichten 1990er-Tagebuchs projiziert: »Unterwegs von Deutschland nach Deutschland.« Zwei, natürlich von ihm selbst gezeichnete Heuschrecken, die in entgegengesetzte Richtungen streben, eine gen Westen, die andere gen Osten; wie eben bei Grass üblich: dass der Fall klar ist. Heuschrecken! Kapiert?
    »Es muss schon Ungewöhnliches anstehen, das mich in die Pflicht nimmt«, liest Grass nun aus seinen Tagebucheintragungen vom 1. Januar 1990 vor. Selbstkritik oder gar Humor sind keine Fertigkeiten, in denen er sich je besonders hervorgetan hat, und da solche Beweggründe wohl ausscheiden, ist es doch immerhin mutig zu nennen, dass er ausgerechnet die Aufzeichnungen jenes Jahres für seine erste nicht literarisierte Tagebuch-Veröffentlichung ausgesucht hat – in keinem anderen Jahr hat Grass nachweislich größeren Unfug geredet und geschrieben als eben 1990, dem Jahr nach dem Mauerfall, dem Jahr der Wiedervereinigung. »In die Pflicht genommen« heißt also: Er konnte nicht anders. Er musste.
    Gleich am 1. Januar macht er sich und dem Leser klar, dass dies keingewöhnliches Tagebuch sein wird, sondern eine permanente Levitenlese: den Deutschen mal ins Stammbuch schreiben, wo der Hase läuft und der Hammer hängt, und »mich auch in beide Wahlkämpfe (Mai und Dezember) einmischen«.
    Ein interessanter und für diese Lesung wegweisender Versprecher gleich zu Beginn: »Als wollte ich mich positiv aufrüsten« steht da im Buch, aber Grass sagt »polit…« statt »positiv«, verbessert sich dann; sowas passiert dem geübtesten Vorleser. Dennoch stimmig, dass gerade Grass »politisch« auch dort sieht, wo es gar nicht steht. Politisch aufrüsten also. Einer muss es tun!
    Ein Mitarbeiter des Steidl-Verlags hatte, bevor das Weinglas kippte, ein paar einleitende Worte gesprochen, sehr nervös war er und

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