Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
Straftaten vorzuwerfen, landete sein Fall in unserer Abteilung.
In der rekordverdächtigen Zeit von zehn Minuten hatte ich die Tür meines Oberstaatsanwaltes gefunden. Oberstaatsanwalt Berndt bat mich freundlich herein. Er stand ein Jahr vor seiner Pensionierung, war etwas beleibt und schaute mich über den Rand seiner Brille, die ihm weit auf die Nase gerutscht war, mit einem verschmitzten Lächeln an. »Da sind Se ja. Hamse Ihre Kollegen und Ihr Zimma schon jesehen?«, fragte er mit starkem Berliner Akzent. Das anhaltende und irgendwie listig wirkende Lächeln irritierte mich etwas, ebenso die große Tüte voller Überraschungseier (ohne Schokolade), die auf seinem Tisch stand. Später hatte ich ausreichend Gelegenheit herauszufinden, dass der Oberstaatsanwalt ein sehr umgänglicher und gutmütiger Typ war, der seine gestressten Mitarbeiter äußerst fair führte und keine Zankereien aufkommen ließ. Keiner seiner Staatsanwälte wollte freiwillig in eine andere Abteilung wechseln (und die Überraschungseier sammelte er für seinen Enkel). Nachdem er mich den Mitarbeitern der Geschäftsstelle vorgestellt hatte, gingen wir in die Zimmer der anderen Staatsanwälte der Abteilung. Alle boten mir sofort das Du an, was ich sehr nett fand. Da waren Steffen und Jörg, Gerlinde (mit Adelstitel), Mona, Anna (auch eine abgeordnete Proberichterin) und Jens (unser Gruppenleiter). Ich kam mit Anna in ein Zimmer, das vielleicht fünfzehn bis sechzehn Quadratmeter groß war.
Man stellt sich die Arbeit des Staatsanwalts, geprägt durch Film und Fernsehen, vielleicht so vor: Der Staatsanwalt sitzt in einem geräumigen Büro an einem großen, glänzend |25| polierten Holztisch. Im Zimmer befindet sich nur eine Akte, die fein säuberlich vor ihm auf dem Tisch liegt. Jetzt steht er auf und versucht mit seinem Golfschläger ein paar Bälle zu putten, während er über die Freisprechanlage mit einer Geschädigten telefoniert: »Seit einer Woche beschäftige ich mich ausschließlich mit Ihrem Fall. Ich halte es für taktisch klug, jetzt so und nicht anders vorzugehen. Morgen habe ich noch einmal eine Besprechung mit Kriminalkommissar XY zu diesem Punkt angesetzt. Wir reden dann noch mal ausführlicher darüber, wenn ich von der Tatortbesichtigung zurück bin.« Wenn der Leser solch ein Bild vor Augen hat, sollte er es in Gedanken zerreißen und in den Papierkorb werfen. Die Wirklichkeit im Kriminalgericht Moabit sieht doch etwas anders aus.
Ich weiß bis heute nicht, wann das Zimmer zuletzt renoviert worden war. Vielleicht vor dreißig Jahren. In der Mitte standen zwei alte zerkratzte Schreibtische aus Pressholz, hinter denen wir kaum Platz hatten. Es gab noch einen ähnlich prächtigen Garderobenschrank und einen kleinen Tisch, auf dem eine Kaffeemaschine stand, sowie einen kleinen Abstelltisch für die zu bearbeitenden Akten (den sogenannten Aktenbock). Eine Verbindungstür, die zum Glück nicht in unsere Richtung aufschwang, führte ins Nachbarzimmer. Dort saß Jens. Da die Tür meistens offen stand, war es vom Gefühl her nicht ganz so beengt. Die alte Heizung mit Rohren über Putz war in einem sehr dunklen Braunton gestrichen und nicht zu regulieren.
»So, denn können Se ja jleich anfangen. Se wissen ja, dit der Jens Ihr Jejenzeichna iss.« Herr Berndt wankte gemütlich Richtung Ausgang. Die nächsten sechs Monate bedurfte jede Verfügung, die ich (oder ein anderer Anfänger) |26| veranlasste, der Zweitunterschrift eines erfahrenen Staatsanwalts. Ohne sein Okay ging nichts.
Eigentlich wollte ich mit Jens besprechen, wie ich anfangen sollte. Doch Anna erklärte, der sei in einer Strafverhandlung und komme erst am Nachmittag wieder. Ich könne mich ja schon mal an den ersten Akten versuchen.
Bei einer Ermittlungsakte gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten der weiteren Sachbehandlung. Entweder man klagt an (beziehungsweise beantragt einen Strafbefehl), stellt das Verfahren ein oder ordnet weitere Ermittlungen durch die Polizei an. Auf dem Aktenbock thronte ein gewaltiger Stapel, der zwar nicht den Alpen, aber doch einem gewaltigen Vorgebirge glich. Womit sollte ich da bloß beginnen? Schockiert erkundigte ich mich bei Anna, warum denn all die Akten über Tage dort liegengeblieben seien. Anna zuckte unschuldig die Schultern und erklärte, dies sei der normale Akteneingang eines Tages. Sie schaute mich an, wobei sich ihre Augen zu Schlitzen zusammenzogen, und sagte: »Morgen kommen bestimmt wieder genauso viele.«
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