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Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt

Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt

Titel: Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pragst
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hatte ich einen Vorstellungstermin bei meinem Hauptabteilungsleiter Dr.   Ring, Herr über sechs Abteilungen und rund vierzig bis fünfzig Staatsanwälte. Es zeigte sich, dass er bestens über den Zustand meines Dezernats Bescheid wusste. »Na, Sie haben ja hundertfünfundvierig offene Verfahren.« Mit offenen Verfahren bezeichnet man staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten, die |34| noch keiner Abschlussverfügung (Anklage zum Strafgericht oder Einstellung des Verfahrens) zugeführt sind. Sie müssen im Hinblick darauf ausgewertet werden, womöglich stehen noch weitere Ermittlungen an. Offene Verfahren zu bearbeiten ist also der Hauptbereich der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit, doch zu viele offene Verfahren sind ein Problem. Irgendwann kann ein Staatsanwalt dann den hohen Aktenumlauf nicht mehr beherrschen und bewältigen. Es kommt zu Verzögerungen und Beschwerden von Polizei und Anzeigeerstattern (von den Beschuldigten weniger, es sei denn, sie sitzen in Untersuchungshaft). Hauptabteilungsleiter Dr.   Ring erklärte mir, dass er die kritische Grenze bei etwa hundertfünfzig offenen Verfahren pro Staatsanwalt sehe. Er wisse, dass die Zahl bei Anfängern zunächst etwas höher sei. Sie müsse dann aber schnell wieder unter die 150er-Marke sinken. Alles andere seien seine »Problemkinder«. Bei mir sei das bestimmt nicht weiter schwierig, da ich den Kracht (Jens) als Gegenzeichner habe. »Der Mann hat ja ein Auge«, meinte Dr.   Ring anerkennend. Ich versuchte mir die Augen von Jens in Erinnerung zu rufen. Dann machte es klick! und ich verstand, dass er so etwas wie Ermittlerinstinkt meinte.
    Über die Rahmenbedingungen meines Handelns in Kenntnis gesetzt, ging ich entschlossen in mein Zimmer zurück. Ich sagte diesen offenen Verfahren den Kampf an und dachte dabei insbesondere an den »Bauchwehstapel«. Eine Weihnachtsbescherung ganz eigener Art. Ich würde nicht in den Problemkindergarten von Dr.   Ring kommen! Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass dort Kuscheln angesagt war.

|35|
Das Ende des kleinen Ladens
    D er Überfall lag jetzt sechs Monate zurück. Erika und Werner L. hatten den kleinen Laden schweren Herzens geschlossen. Nach all den Jahren war es, als würden sie ein Teil von sich, einen Familienangehörigen, beerdigen. Finanziell wäre es kein Problem gewesen. Der Laden lief, mehr schlecht als recht, genauso wie vor dem Überfall. Sogar die 1500   Euro hatten sie von der Versicherung erstattet bekommen. Das Problem lag bei Erika. Sie konnte keine Kunden mehr bedienen und allein war es für Werner nicht zu schaffen. Immer, wenn die Ladentür aufging, bekam Erika es mit der Angst zu tun. Für einen kurzen Augenblick dachte sie, es wolle sie wieder jemand überfallen. Besonders bei Leuten, die sie nicht kannte, fühlte Erika sich wie erstarrt. Sie ertappte sich häufig bei dem Gedanken, ob es womöglich einer der Täter sei, der sie jetzt erneut ausspionieren wolle. Erika konnte sich einfach zu keiner Freundlichkeit gegenüber Kunden durchringen. Sie hatte keinen Spaß mehr an der Arbeit, sondern litt nur noch unter dem Kundenkontakt. Jede Nacht wachte sie mehrmals auf, von Albträumen geplagt und schweißgebadet. In ihren Träumen war sie von den Männern mit den Masken umringt. Dann musste sie wieder kämpfen. Immer nur die Masken. Nie konnte sie ein Gesicht erkennen. Sie fragte sich, ob das jemals aufhören würde. Die Gespräche mit der |36| Psychologin, die ihr die Polizei vermittelt hatte, hatten ihr bisher nicht geholfen.
     
    Werner saß jetzt ohne Arbeit zu Hause. Er hatte überraschend eine Stelle bei einem Wachschutzunternehmen (im Wesentlichen Pförtnerarbeit) gefunden, konnte sich jedoch in seinem Alter nicht mehr an die Nachtarbeit gewöhnen. Wegen extremer Schlafprobleme musste er den Job wieder aufgeben.
    Erika arbeitete nun als Aushilfe in einem Imbiss. Sie machte Pommes frites, belegte Brötchen mit Wurst und Käse. Kunden bedienen konnte sie nicht, selbst wenn es an dem Stand mal hektisch wurde. Die Imbissbesitzer wussten aber Bescheid und respektierten das. Es waren nette Leute. Das hier verdiente Geld reichte nicht für den Lebensunterhalt, Erika und Werner L. waren auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen.
    Von der Kriminalpolizei hatten sie die Mitteilung erhalten, dass es derzeit keine weiteren Ermittlungsansätze gebe. Vor allem hätten die Überprüfung der Pistolen und der Masken keine verwertbaren Spuren ergeben. Beim Auftauchen neuer Ermittlungsmöglichkeiten würde

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