0674 - Der Wald des Teufels
»Hast du das schon gelesen?« fragte Dennis Naumann mit zitternder Stimme und warf eine Tageszeitung auf den Schreibtisch. Sie rutschte über die polierte Oberfläche und blieb vor Heinrich ›Harry‹ Bender, dem Bürgermeister der kleinen Ortschaft, liegen.
Der warf nur einen kurzen Blick auf die Schlagzeile: Der Spreewald-Schänder: Drittes Kind verschwunden! Die Schrift war so groß, daß sie die obere Hälfte der Titelseite bedeckte.
»Natürlich«, entgegnete er dann ruhig und schob die Zeitung zurück. »Ziemlich geschmacklos, findest du nicht?«
Naumann strich sich das schweißnasse Haar aus der Stirn. »Es geht mir nicht um Stilfragen, Harry. Ich will von dir wissen, ob es etwas damit zu tun hat?«
Der Bürgermeister schwieg einen Moment und sah sein Gegenüber abschätzend an. Er war mit Dennis zur Schule gegangen. Sie hatten immer gut zusammengearbeitet, waren ein erfolgreiches Team, das es weit gebracht hatte. Dennis hatte das marode Baugeschäft seines Vaters aus den roten Zahlen zum Erfolg geführt, während es Harry mit nicht einmal 32 Jahren bereits zum Bürgermeister gebracht hatte. Böse Zungen munkelten, daß die Absprachen, die beide miteinander trafen, nicht immer legal waren, aber es gab keine Beweise. Jetzt aber hatte Harry den Eindruck, daß sein alter Freund dem Druck nicht mehr gewachsen war. Er schwitzte ständig, wirkte nervös und vernachlässigte seine Geschäfte.
Und jetzt: Ob es etwas damit zu tun hat.
Harry, beugte sich vor. »Dennis«, sagte er. »Das ist nur eine Legende, die von ein paar Bauern erfunden wurde, weil sie im Nebel Gestalten zu sehen glaubten. Es ist nicht real. Du solltest aufhören, dich mit diesen Spinnereien zu beschäftigen und lieber darauf achten, daß mit dem Bau alles planmäßig weitergeht.«
»Und was ist mit den Kindern?«
Der Bürgermeister seufzte. »Woher soll ich wissen, welcher Perverse im Wald unterwegs ist? Die Hauptsache ist doch, daß wir nicht davon betroffen sind. Ich werde vor der Presse ein paar mitfühlende Worte sprechen und den Rest der Polizei überlassen. Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns um solche Dinge zu kümmern.«
Er begann die Post zu öffnen, die seine Sekretärin ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte, und signalisierte Dennis damit, daß das Gespräch beendet war. Der stand auf und ging mit langsamen Schritten zur Tür.
In der letzten Zeit kam es ihm manchmal so vor, als kenne er seinen Freund nicht mehr. Harry wirkte viel kälter als früher, schien keinerlei Mitleid mit den verschwundenen Kindern oder ihren Eltern zu empfinden. Er war zwar immer schon berechnend gewesen und hatte alle anderen Aspekte des Lebens seiner Karriere untergeordnet. Aber dieses Verhalten war selbst für ihn ungewöhnlich. Was war mit Harry Bender geschehen?
Der Bürgermeister, der über den Rand eines Briefes beobachtete, wie Dennis sein Büro verließ, wußte, welche Fragen den Bauunternehmer beschäftigten. Harry hätte ihm leicht eine Antwort geben können. Er hätte Dennis in die kleine Abstellkammer führen können, die stets abgeschlossen war und deren Inneres selbst für seine engsten Freunde und Mitarbeiter ein Geheimnis darstellte. Dort hätte Harry nur auf das Pentagramm zeigen müssen, das er mit Kreide auf den alten Parkettboden gemalt hatte. Erklärend hätte er angemerkt, dies sei so etwas wie eine »Standleitung in die Hölle«. Damit wären alle Fragen des Bauunternehmers beantwortet gewesen. Dann wüßte er, wie Harry der rasche Aufstieg zum Bürgermeister von Fürstenwald gelungen war, warum sein einziger Gegenkandidat seine Kandidatur plötzlich zurückgezogen hatte und warum sich ein Konzern entschloß, ein großes Kino ausgerechnet in Fürstenwald zu bauen.
Harry Bender hatte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
***
Das Geräusch der Motorsäge zerriß die nachmittägliche Stille des Waldes. Rasch fraß sich das Sägeblatt durch einen armdicken Ast, der in handliche Stücke zerkleinert worden war. Das letzte Stück fiel neben einem Baumstumpf zu Boden, als das Geräusch der Säge verstummte.
Robert Mörtens legte das Werkzeug zur Seite, nahm die Schutzbrille ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Einige Meter entfernt saßen seine beiden Kollegen auf einem umgefallenen Baum und tranken Bier. Eigentlich hätten sie die Holzstücke auf den kleinen Allrad-Laster laden müssen, aber dazu hatten sie anscheinend keine Lust. Robert überlegte, ob er etwas sagen solle, entschied sich aber dagegen. Sie hätten
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