Auf dem Rücken des Tigers
feierten – saß in seiner Loge und wirkte ergriffen.
Sicher war auch am Waldfriedhof ein Lichterbaum entzündet worden, und wenn auch Laura und Wolfgang in ihrer tiefen Gruft ihn nicht sehen könnten, würden sie vielleicht doch seinen Glanz spüren.
Bei aller Rührung, der sich Christian überließ, wußte er, was zu tun sei. Er prostete seinem unbekannten Wohltäter zu und sah sich dann im Raum nach geeigneten Verstecken um. Wäre er vernünftig, würde der Schnaps über die Feiertage reichen.
Neben ihm wohnte Erich Strehl, der Wirtschaftsprüfer a.D. Er hörte ihn auf und ab gehen. Und dann stehenbleiben.
In den Pausen, zwischen den Strophen, hörte man die Einsamkeit aller rumoren. Christian überlegte, ob er seinen Nachbarn nicht einladen sollte.
»Herein«, rief er dann auf ein schwächliches Klopfgeräusch.
Es war Mehringer, der Bundesbahnrat außer Dienst, ein ruhiger Mann, der sich jetzt mit Fahrplänen von Zügen befaßte, die nicht mehr abfuhren.
»Entschuldigen Sie«, sagte er und betrachtete mit einem Gesicht, auf dem der fahle Anstrich der Krankheit hing, den Besuchten. »Ich weiß eigentlich gar nicht, was …«
»Frohe Weihnacht«, erwiderte Christian.
»Vom Himmel hoch«, sangen sie in der Kantine, »da komm' ich her …«
Die Feier dauerte nun schon über eine Stunde, und die Stimmen hatten nicht mehr den klaren Ton. Einige grölten schon wie Menschen tönen, die etwas getrunken haben, Punsch oder Rotwein oder Wermut oder Whisky.
Der Bundesbahnrat leckte mit trockener Zunge rissige Lippen; er zog heftig die Luft ein.
»Hier riecht's doch nach was …«, sagte er.
»Ich bring' euch heute frohe Mär'«, sangen die Feiernden.
»Warum sind Sie eigentlich in dieser Anstalt?« fragte Christian.
»Meine Frau«, antwortete der Mann hastig, »und meine Kinder.«
Er atmete schwer. »Ich habe eine schreckliche Frau«, sagte er müde, »und noch fürchterlichere Kinder.«
»Reden Sie doch nicht so dumm«, unterbrach ihn Christian grob. »Gesoffen haben Sie doch früher. Oder nicht?«
»Nicht einen Tropfen«, versicherte der Mann mit den glanzlosen Augen, gleich Glausaugen, die nichts mehr sahen und ihre Bestimmung an ein anderes Sinnesorgan abgegeben hatten, die Nase. »Sie«, sagte der Besucher heiser flüsternd, »Sie – Sie haben doch was zum Saufen hier!«
»Woher sollte ich etwas haben?« antwortete Christian.
»Hauch mich an«, befahl der Bundesbahnrat mit der scharfen Stimme, die Frau Maria Mehringer gehabt hatte, wenn sie ihn jeweils anschleppten. In seine Glasaugen kam Leben, tückisches Leben: »Entweder du gibst mir davon ab«, drohte er, »oder ich hol' den Krautkopf und dann …« Er zitterte vor Erregung. »Der schüttet es weg.« Sein Mund schluckte trocken die Beute: »Oder …«, die Worte verwandelten das Gesicht eines Bundesbahnrats in eine Mörderfratze, »oder sie saufen es uns weg!«
Christian holte unter dem Kopfkissen die angebrochene Flasche hervor. »Aber leise«, sagte er und suchte sein Zahnputzglas, »und kein Wort zu den anderen!«
Sein Freund und Mörder und Gefährte und Mitpatient riß ihm die Flasche aus der Hand, setzte sie an den Mund und trank. Die Flüssigkeit rann ihm links und rechts an den Mundecken entlang, den Hals hinab, aber sie ging nicht verloren, Mehringer fing jeden Tropfen mit dem Finger auf und schleckte ihn ab, und als die Haut von der Zunge längst trockengeschluckt war, schmatzte er immer noch.
Sie tranken schweigend. Eine Stunde lang. Wenn Christian den Mann betrachtete, hielt er sich für einen Gewohnheitstrinker, doch für keinen solchen Alkoholiker wie diesen entgleisten Fahrplanmenschen.
Der Mann mußte austreten; es konnte nicht viel passieren, die Toilette war gleich nebenan, aber Krautkopf, der gerade die letzte Runde des Abends machte, begegnete Mehringer und fragte, wie es ihm ginge.
Der Bundesbahnrat hielt sich die Hand vor den Mund, und der nette Pfleger erkundigte sich, ob er Zahnschmerzen hätte; Mehringer nickte heftig. Das war ganz schlecht; als er mit Christian bei der dritten Flasche saß, kam Krautkopf zurück. Sein Anklopfen gab Christian gerade noch Zeit, die Flasche zwischen die Beine zu pressen.
Der Pfleger brachte schmerzstillende Tabletten, da er nicht wollte, daß an einem Abend, an dem es in der Kantine so hoch herging, ein Mensch leiden müßte.
Und dann wurde die Nacht laut, eine Etage tiefer. »Stille Nacht, heilige Nacht«, sang der Chor der Heil- und Pflegeanstalts-Bediensteten, falsch aber
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