Knochen-Mond
Aus seinem Mund drang ein tiefes, rauhes Stöhnen.
Genau dieses Geräusch war es, das Barry F. Bracht erwachen ließ!
Er dachte darüber nach und wußte im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Überhaupt war vieles anders geworden. Doch darüber zu spekulieren, war jetzt nicht der richtige Ort und auch nicht der rechte Zeitpunkt. Eröffnete die Augen und drehte gleichzeitig den Kopf nach links. Das Fenster seines Schlafzimmers stand weit offen. Am Himmel stand der bleiche Mond wie ein Auge. Er glotzte in den Raum hinein, als wollte er jede Einzelheit in sich aufnehmen.
Bracht stand auf.
Das heißt, er wollte es, schon beim Sitzen merkte er den Schwindel. Ihm wurde komisch im Kopf. Er fühlte sich unwohl, als hätte er vor dem Schlafengehen noch etwas getrunken.
Auf dem Bettrand blieb er zunächst sitzen, den Kopf halb erhoben, den Blick nach vorn gerichtet auf das schmale, bis zum Boden reichende Fenster, dessen Flügel weit offenstand.
Bracht wohnte in der letzten Etage des Hauses, gewissermaßen unter dem Dach. Der Blick von hier war frei. Er konnte sich auf den Mond konzentrieren.
Eigentlich war es ein romantischer Anblick. Die runde Scheibe hob sich konturenscharf vom dunklen Grau des Himmels ab, silberhell, wie sie von zahlreichen Erzählern und Dichtern beschrieben worden war. Bracht dachte nicht länger darüber nach. Mit einer müden Bewegung strich er über seinen Oberlippenbart, bevor er sich einen Ruck gab und aufstand.
Sofort geriet er ins Taumeln, fing sich wieder und stützte sich mit beiden Händen an einem Tisch ab. »Verdammt, du wirst alt, Junge. Du brauchst mehr Bewegung. Nicht immer nur als Lektor am Schreibtisch in einem Verlag hocken.«
Trotzdem war er gesund. Er rauchte nicht, er trank nicht, ihm hätte nichts passieren können. Dieses ungewöhnliche Unwohlsein mußte andere Ursachen haben.
Nur welche?
Wieder dachte er an den Mond. Ob er daran die Schuld trug? Er und seine Strahlen, sein Licht, seine Atmosphäre? Es war alles möglich, und er spürte auch, daß ihn der Mond irgendwo anzog.
Bracht räusperte sich, holte danach tief Luft und ging mit unsicheren Schritten auf das Fenster zu, als wäre ihm der Mond vom Bett aus noch nicht nah genug.
Vor dem offenen Rechteck blieb er stehen, die Arme durchgedrückt, die Hände mit den Ballen gegen die Fensterbank gestemmt. Er sah das Grau des Himmels und glaubte erkennen zu können, daß dieser Mond abermals seine Farbe gewechselt hatte.
Er war noch blasser geworden.
Aber auch mit Schatten versehen, die sich in seinem Innern verteilten. An den berühmten Mann im Mond glaubte er schon lange nicht mehr. Die Schatten entstanden durch die Gebirgszüge auf dem Erdtrabanten. Und doch sahen sie in dieser Nacht anders aus. Sie bildeten eine ihm fremde Formation, als wären sie dabei, einen Gegenstand darzustellen, der etwas Bestimmtes zeigte.
Einige Male wischte sich Bracht über die Augen, weil er nicht glauben wollte, was er sah.
Es war vorhanden, es gab keinen Zweifel, er hatte sich nicht getäuscht. Auf dem Mond zeichnete sich ein Gesicht ab. Kein normales, sondern eines, das sich aus Knochenteilen zusammensetzte, ein Skelettgesicht…
***
Barry F. Bracht blieb stehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Über London stand eine schon tropische Schwüle, die von keinem Windhauch bewegt wurde. Es war ein Wetter, wie es in diesen Breiten eigentlich nicht geben durfte, und das schon seit Tagen. Die Geräusche der Nacht wirkten auf ihn seltsam weit und gleichzeitig nah. Da stimmte einiges nicht mehr, aber dafür hatte Bracht keine Antenne. Der Mond war wichtiger. Er wurde zudem den Eindruck nicht los, daß die bleiche Scheibe etwas mit ihm ganz persönlich zu tun hatte. Daß dieses Knochengesicht nur allein ihm galt und keinem anderen. Die Fratze aus Gebein sah nicht anders aus als ein normaler Knochenschädel, selbst die Mundöffnung konnte er erkennen.
Schlimm…
Seine Gedanken rasten. Plötzlich fühlte er sich aufgeputscht. Die Lethargie war verschwunden. Der Mond hatte ihm Kraft gegeben, und durch seinen Körper rieselte ein Gefühl, das er bisher noch nicht erlebt hatte und sich auch nicht erklären konnte.
Konnte ein Mensch zweigeteilt werden?
Darüber hätte er noch vor einer Stunde gelacht. Jetzt nicht mehr, denn in diesem Augenblick spaltete er sich, obwohl er äußerlich der gleiche war. In seinem Innern begann es.
Seit seiner Geburt hieß er Barry F. Bracht. Er war zweiunddreißig und arbeitete in einem Londoner
Weitere Kostenlose Bücher